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Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75.

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eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers - so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt mahlen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Thränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hinmahlen, und parliren, statt auszudrücken. - Hier sieht man, daß bei dieser Sprache der Empfindungen, wo ich nicht sagen, sondern sprechen muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht schreiben, sondern in die Seele reden muß, daß es der andre fühlt: daß hier der eigentliche Ausdruck unabtrennlich sey. Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem

eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt mahlen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Thränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hinmahlen, und parliren, statt auszudrücken. – Hier sieht man, daß bei dieser Sprache der Empfindungen, wo ich nicht sagen, sondern sprechen muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht schreiben, sondern in die Seele reden muß, daß es der andre fühlt: daß hier der eigentliche Ausdruck unabtrennlich sey. Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem

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[66/0018] eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt mahlen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Thränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hinmahlen, und parliren, statt auszudrücken. – Hier sieht man, daß bei dieser Sprache der Empfindungen, wo ich nicht sagen, sondern sprechen muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht schreiben, sondern in die Seele reden muß, daß es der andre fühlt: daß hier der eigentliche Ausdruck unabtrennlich sey. Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75, hier S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_gedanke_1767/18>, abgerufen am 25.04.2024.