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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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konnte diese neue Ausgabe sich jetzt in ihrer alten Gestalt
vors Auge des Publikums wagen. Jch hatte es bemerkt,
daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich
zu nennen, in andre Bücher übergegangen und in einem
Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte.
Das bescheidne "Auch" war vergessen; und doch war mir
es nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten,
Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe
Alter
unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige
Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine
Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Ge-
schichte der Cultur
, geschweige die Philosophie
der ganzen Menschengeschichte
mit sicherm Fuß
ausmessen könnte. Welches Volk der Erde ists, das nicht
einige Cultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vor-
sehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und
oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten, jedes Jndi-
viduum des Menschengeschlechts geschaffen wäre? Nichts
ist unbestimmter als dieses Wort und nichts ist trüglicher
als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten.
Wie wenige sind in einem cultivirten Volk cultivirt? und
worinn ist dieser Vorzug zu setzen? und wie fern trägt er
zu ihrer Glückseligkeit bei? zur Glückseligkeit einzelner
Menschen nämlich, denn daß das Abstractum ganzer Staa-

ten

konnte dieſe neue Ausgabe ſich jetzt in ihrer alten Geſtalt
vors Auge des Publikums wagen. Jch hatte es bemerkt,
daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich
zu nennen, in andre Buͤcher uͤbergegangen und in einem
Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte.
Das beſcheidne „Auch„ war vergeſſen; und doch war mir
es nie eingefallen, mit den wenigen allegoriſchen Worten,
Kindheit, Jugend, das maͤnnliche, das hohe
Alter
unſeres Geſchlechts, deren Verfolg nur auf wenige
Voͤlker der Erde angewandt und anwendbar war, eine
Heerſtraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Ge-
ſchichte der Cultur
, geſchweige die Philoſophie
der ganzen Menſchengeſchichte
mit ſicherm Fuß
ausmeſſen koͤnnte. Welches Volk der Erde iſts, das nicht
einige Cultur habe? und wie ſehr kaͤme der Plan der Vor-
ſehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und
oft nur verfeinte Schwachheit nennen ſollten, jedes Jndi-
viduum des Menſchengeſchlechts geſchaffen waͤre? Nichts
iſt unbeſtimmter als dieſes Wort und nichts iſt truͤglicher
als die Anwendung deſſelben auf ganze Voͤlker und Zeiten.
Wie wenige ſind in einem cultivirten Volk cultivirt? und
worinn iſt dieſer Vorzug zu ſetzen? und wie fern traͤgt er
zu ihrer Gluͤckſeligkeit bei? zur Gluͤckſeligkeit einzelner
Menſchen naͤmlich, denn daß das Abſtractum ganzer Staa-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/10>, abgerufen am 20.04.2024.