Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

3. Es erhellet also von selbst, daß da diese Hauptform
nach Geschlechtern, Arten, Bestimmungen, Elementen immer
variirt werden mußte, Ein Exemplar das andre erkläre.
Was die Natur bei diesem Geschöpf als Nebenwerk hinwarf,
führte sie bei dem andern gleichsam als Hauptwerk aus; sie setz-
te es ins Licht, vergrößerte es und ließ die andern Theile, ob-
wohl immer noch in der überdachtesten Harmonie, diesem
Theil jetzt dienen. Anderswo herrschen wiederum diese die-
nenden Theile und alle Wesen der organischen Schöpfung
erscheinen also als disie[c]ti membra poetae. Wer sie studiren
will, muß Eins im Andern studiren; wo dieser Theil ver-
hüllt und vernachläßigt erscheinet, weiset er auf ein andres
Geschöpf, wo ihn die Natur ausgebildet und offen darlegte.
Auch dieser Satz findet seine Bestätigung in allen Phänome-
nen divergirender Wesen.

4. Der Mensch endlich scheint unter den Erdthieren
das feine Mittelgeschöpf zu seyn, in dem sich, so viel es die
Einzelnheit seiner Bestimmung zuließ, die meisten und fein-
sten Stralen ihm ähnlicher Gestalten sammeln. Alles in
gleichem Maas konnte er nicht in sich fassen: er mußte also
diesem Geschöpf an Feinheit eines Sinnes, jenem an Muskel-
kraft, einem Dritten an Elasticität der Fibern nachstehn; so
viel sich aber vereinigen ließ, ward in ihm vereinigt. Mit

allen

3. Es erhellet alſo von ſelbſt, daß da dieſe Hauptform
nach Geſchlechtern, Arten, Beſtimmungen, Elementen immer
variirt werden mußte, Ein Exemplar das andre erklaͤre.
Was die Natur bei dieſem Geſchoͤpf als Nebenwerk hinwarf,
fuͤhrte ſie bei dem andern gleichſam als Hauptwerk aus; ſie ſetz-
te es ins Licht, vergroͤßerte es und ließ die andern Theile, ob-
wohl immer noch in der uͤberdachteſten Harmonie, dieſem
Theil jetzt dienen. Anderswo herrſchen wiederum dieſe die-
nenden Theile und alle Weſen der organiſchen Schoͤpfung
erſcheinen alſo als disie[c]ti membra poëtae. Wer ſie ſtudiren
will, muß Eins im Andern ſtudiren; wo dieſer Theil ver-
huͤllt und vernachlaͤßigt erſcheinet, weiſet er auf ein andres
Geſchoͤpf, wo ihn die Natur ausgebildet und offen darlegte.
Auch dieſer Satz findet ſeine Beſtaͤtigung in allen Phaͤnome-
nen divergirender Weſen.

4. Der Menſch endlich ſcheint unter den Erdthieren
das feine Mittelgeſchoͤpf zu ſeyn, in dem ſich, ſo viel es die
Einzelnheit ſeiner Beſtimmung zuließ, die meiſten und fein-
ſten Stralen ihm aͤhnlicher Geſtalten ſammeln. Alles in
gleichem Maas konnte er nicht in ſich faſſen: er mußte alſo
dieſem Geſchoͤpf an Feinheit eines Sinnes, jenem an Muskel-
kraft, einem Dritten an Elaſticitaͤt der Fibern nachſtehn; ſo
viel ſich aber vereinigen ließ, ward in ihm vereinigt. Mit

allen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="2">
          <pb facs="#f0112" n="90"/>
          <p>3. Es erhellet al&#x017F;o von &#x017F;elb&#x017F;t, daß da die&#x017F;e Hauptform<lb/>
nach Ge&#x017F;chlechtern, Arten, Be&#x017F;timmungen, Elementen immer<lb/>
variirt werden mußte, <hi rendition="#fr">Ein Exemplar das andre erkla&#x0364;re.</hi><lb/>
Was die Natur bei die&#x017F;em Ge&#x017F;cho&#x0364;pf als Nebenwerk hinwarf,<lb/>
fu&#x0364;hrte &#x017F;ie bei dem andern gleich&#x017F;am als Hauptwerk aus; &#x017F;ie &#x017F;etz-<lb/>
te es ins Licht, vergro&#x0364;ßerte es und ließ die andern Theile, ob-<lb/>
wohl immer noch in der u&#x0364;berdachte&#x017F;ten Harmonie, die&#x017F;em<lb/>
Theil jetzt dienen. Anderswo herr&#x017F;chen wiederum die&#x017F;e die-<lb/>
nenden Theile und alle We&#x017F;en der organi&#x017F;chen Scho&#x0364;pfung<lb/>
er&#x017F;cheinen al&#x017F;o als <hi rendition="#aq">disie<supplied>c</supplied>ti membra poëtae</hi>. Wer &#x017F;ie &#x017F;tudiren<lb/>
will, muß Eins im Andern &#x017F;tudiren; wo die&#x017F;er Theil ver-<lb/>
hu&#x0364;llt und vernachla&#x0364;ßigt er&#x017F;cheinet, wei&#x017F;et er auf ein andres<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pf, wo ihn die Natur ausgebildet und offen darlegte.<lb/>
Auch die&#x017F;er Satz findet &#x017F;eine Be&#x017F;ta&#x0364;tigung in allen Pha&#x0364;nome-<lb/>
nen divergirender We&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>4. Der Men&#x017F;ch endlich &#x017F;cheint unter den Erdthieren<lb/>
das feine Mittelge&#x017F;cho&#x0364;pf zu &#x017F;eyn, in dem &#x017F;ich, &#x017F;o viel es die<lb/>
Einzelnheit &#x017F;einer Be&#x017F;timmung zuließ, die mei&#x017F;ten und fein-<lb/>
&#x017F;ten Stralen ihm a&#x0364;hnlicher Ge&#x017F;talten &#x017F;ammeln. Alles in<lb/>
gleichem Maas konnte er nicht in &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;en: er mußte al&#x017F;o<lb/>
die&#x017F;em Ge&#x017F;cho&#x0364;pf an Feinheit eines Sinnes, jenem an Muskel-<lb/>
kraft, einem Dritten an Ela&#x017F;ticita&#x0364;t der Fibern nach&#x017F;tehn; &#x017F;o<lb/>
viel &#x017F;ich aber vereinigen ließ, ward in ihm vereinigt. Mit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">allen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0112] 3. Es erhellet alſo von ſelbſt, daß da dieſe Hauptform nach Geſchlechtern, Arten, Beſtimmungen, Elementen immer variirt werden mußte, Ein Exemplar das andre erklaͤre. Was die Natur bei dieſem Geſchoͤpf als Nebenwerk hinwarf, fuͤhrte ſie bei dem andern gleichſam als Hauptwerk aus; ſie ſetz- te es ins Licht, vergroͤßerte es und ließ die andern Theile, ob- wohl immer noch in der uͤberdachteſten Harmonie, dieſem Theil jetzt dienen. Anderswo herrſchen wiederum dieſe die- nenden Theile und alle Weſen der organiſchen Schoͤpfung erſcheinen alſo als disiecti membra poëtae. Wer ſie ſtudiren will, muß Eins im Andern ſtudiren; wo dieſer Theil ver- huͤllt und vernachlaͤßigt erſcheinet, weiſet er auf ein andres Geſchoͤpf, wo ihn die Natur ausgebildet und offen darlegte. Auch dieſer Satz findet ſeine Beſtaͤtigung in allen Phaͤnome- nen divergirender Weſen. 4. Der Menſch endlich ſcheint unter den Erdthieren das feine Mittelgeſchoͤpf zu ſeyn, in dem ſich, ſo viel es die Einzelnheit ſeiner Beſtimmung zuließ, die meiſten und fein- ſten Stralen ihm aͤhnlicher Geſtalten ſammeln. Alles in gleichem Maas konnte er nicht in ſich faſſen: er mußte alſo dieſem Geſchoͤpf an Feinheit eines Sinnes, jenem an Muskel- kraft, einem Dritten an Elaſticitaͤt der Fibern nachſtehn; ſo viel ſich aber vereinigen ließ, ward in ihm vereinigt. Mit allen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/112
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/112>, abgerufen am 21.11.2024.