I. Vergleichung des Baues der Pflanzen und Thie- re in Rücksicht auf die Organisation des Menschen.
Das erste Merkmal, wodurch sich unsern Augen ein Thier unterscheidet, ist der Mund. Die Pflanze ist, wenn ich so sagen darf, noch ganz Mund: sie saugt mit Wurzeln, Blättern und Röhren; sie liegt noch, wie ein unentwickel- tes Kind, in ihrer Mutter Schoos und an ihren Brüsten. Sobald sich das Geschöpf zum Thier organisiret, wird an ihm, selbst ehe noch ein Haupt unterscheidbar ist, der Mund merklich. Die Arme des Polypen sind Mäuler: in Wür- mern, wo man noch wenig innere Theile unterscheidet, sind Speisekanäle sichtbar; ja bei manchen Schaalthieren liegt der Zugang derselben, als ob er noch Wurzel wäre, am Un- tertheil des Thieres. Diesen Kanal also bildete die Natur an ihren Lebendigen zuerst aus und erhält ihn bis zum orga-
nisirtesten
N
I. Vergleichung des Baues der Pflanzen und Thie- re in Ruͤckſicht auf die Organiſation des Menſchen.
Das erſte Merkmal, wodurch ſich unſern Augen ein Thier unterſcheidet, iſt der Mund. Die Pflanze iſt, wenn ich ſo ſagen darf, noch ganz Mund: ſie ſaugt mit Wurzeln, Blaͤttern und Roͤhren; ſie liegt noch, wie ein unentwickel- tes Kind, in ihrer Mutter Schoos und an ihren Bruͤſten. Sobald ſich das Geſchoͤpf zum Thier organiſiret, wird an ihm, ſelbſt ehe noch ein Haupt unterſcheidbar iſt, der Mund merklich. Die Arme des Polypen ſind Maͤuler: in Wuͤr- mern, wo man noch wenig innere Theile unterſcheidet, ſind Speiſekanaͤle ſichtbar; ja bei manchen Schaalthieren liegt der Zugang derſelben, als ob er noch Wurzel waͤre, am Un- tertheil des Thieres. Dieſen Kanal alſo bildete die Natur an ihren Lebendigen zuerſt aus und erhaͤlt ihn bis zum orga-
niſirteſten
N
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0119"n="[97]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#aq">I.</hi><lb/>
Vergleichung des Baues der Pflanzen und Thie-<lb/>
re in Ruͤckſicht auf die Organiſation<lb/>
des Menſchen.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>as erſte Merkmal, wodurch ſich unſern Augen ein<lb/>
Thier unterſcheidet, iſt der Mund. Die Pflanze iſt, wenn<lb/>
ich ſo ſagen darf, noch ganz Mund: ſie ſaugt mit Wurzeln,<lb/>
Blaͤttern und Roͤhren; ſie liegt noch, wie ein unentwickel-<lb/>
tes Kind, in ihrer Mutter Schoos und an ihren Bruͤſten.<lb/>
Sobald ſich das Geſchoͤpf zum Thier organiſiret, wird an<lb/>
ihm, ſelbſt ehe noch ein Haupt unterſcheidbar iſt, der Mund<lb/>
merklich. Die Arme des Polypen ſind Maͤuler: in Wuͤr-<lb/>
mern, wo man noch wenig innere Theile unterſcheidet, ſind<lb/>
Speiſekanaͤle ſichtbar; ja bei manchen Schaalthieren liegt<lb/>
der Zugang derſelben, als ob er noch Wurzel waͤre, am Un-<lb/>
tertheil des Thieres. Dieſen Kanal alſo bildete die Natur<lb/>
an ihren Lebendigen zuerſt aus und erhaͤlt ihn bis zum orga-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">N</fw><fwplace="bottom"type="catch">niſirteſten</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[97]/0119]
I.
Vergleichung des Baues der Pflanzen und Thie-
re in Ruͤckſicht auf die Organiſation
des Menſchen.
Das erſte Merkmal, wodurch ſich unſern Augen ein
Thier unterſcheidet, iſt der Mund. Die Pflanze iſt, wenn
ich ſo ſagen darf, noch ganz Mund: ſie ſaugt mit Wurzeln,
Blaͤttern und Roͤhren; ſie liegt noch, wie ein unentwickel-
tes Kind, in ihrer Mutter Schoos und an ihren Bruͤſten.
Sobald ſich das Geſchoͤpf zum Thier organiſiret, wird an
ihm, ſelbſt ehe noch ein Haupt unterſcheidbar iſt, der Mund
merklich. Die Arme des Polypen ſind Maͤuler: in Wuͤr-
mern, wo man noch wenig innere Theile unterſcheidet, ſind
Speiſekanaͤle ſichtbar; ja bei manchen Schaalthieren liegt
der Zugang derſelben, als ob er noch Wurzel waͤre, am Un-
tertheil des Thieres. Dieſen Kanal alſo bildete die Natur
an ihren Lebendigen zuerſt aus und erhaͤlt ihn bis zum orga-
niſirteſten
N
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. [97]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/119>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.