Organisation zur Rede empfing der Mensch den Athem der Gottheit, den Samen zur Vernunft und ewigen Vervoll- kommung, einen Nachhall jener schaffenden Stimme zu Be- herrschung der Erde, kurz die göttliche Jdeenkunst, die Mutter aller Künste.
VI. Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisiret.
Man spricht sichs einander nach, daß der Mensch ohne Jn- stinct sey und daß dies Jnstinctlose Wesen den Charakter sei- nes Geschlechts ausmache; er hat alle Jnstincte, die ein Er- dethier um ihn besitzet; nur er hat sie alle, seiner Organisa- tion nach, zu einem feinern Verhältniß gemildert.
Das Kind im Mutterleibe scheint alle Zustände durch- gehen zu müssen, die einem Erdegeschöpf zukommen können. Es schwimmt im Wasser: es liegt mit offnem Munde: sein Kiefer ist groß, eh eine Lippe ihn bedecken kann, die sich nur spät bildet; so bald es auf die Welt kommt, schnappt es nach
Luft
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Organiſation zur Rede empfing der Menſch den Athem der Gottheit, den Samen zur Vernunft und ewigen Vervoll- kommung, einen Nachhall jener ſchaffenden Stimme zu Be- herrſchung der Erde, kurz die goͤttliche Jdeenkunſt, die Mutter aller Kuͤnſte.
VI. Der Menſch iſt zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organiſiret.
Man ſpricht ſichs einander nach, daß der Menſch ohne Jn- ſtinct ſey und daß dies Jnſtinctloſe Weſen den Charakter ſei- nes Geſchlechts ausmache; er hat alle Jnſtincte, die ein Er- dethier um ihn beſitzet; nur er hat ſie alle, ſeiner Organiſa- tion nach, zu einem feinern Verhaͤltniß gemildert.
Das Kind im Mutterleibe ſcheint alle Zuſtaͤnde durch- gehen zu muͤſſen, die einem Erdegeſchoͤpf zukommen koͤnnen. Es ſchwimmt im Waſſer: es liegt mit offnem Munde: ſein Kiefer iſt groß, eh eine Lippe ihn bedecken kann, die ſich nur ſpaͤt bildet; ſo bald es auf die Welt kommt, ſchnappt es nach
Luft
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[225[205]/0227]
Organiſation zur Rede empfing der Menſch den Athem der
Gottheit, den Samen zur Vernunft und ewigen Vervoll-
kommung, einen Nachhall jener ſchaffenden Stimme zu Be-
herrſchung der Erde, kurz die goͤttliche Jdeenkunſt, die
Mutter aller Kuͤnſte.
VI.
Der Menſch iſt zu feinern Trieben, mithin zur
Freiheit organiſiret.
Man ſpricht ſichs einander nach, daß der Menſch ohne Jn-
ſtinct ſey und daß dies Jnſtinctloſe Weſen den Charakter ſei-
nes Geſchlechts ausmache; er hat alle Jnſtincte, die ein Er-
dethier um ihn beſitzet; nur er hat ſie alle, ſeiner Organiſa-
tion nach, zu einem feinern Verhaͤltniß gemildert.
Das Kind im Mutterleibe ſcheint alle Zuſtaͤnde durch-
gehen zu muͤſſen, die einem Erdegeſchoͤpf zukommen koͤnnen.
Es ſchwimmt im Waſſer: es liegt mit offnem Munde: ſein
Kiefer iſt groß, eh eine Lippe ihn bedecken kann, die ſich nur
ſpaͤt bildet; ſo bald es auf die Welt kommt, ſchnappt es nach
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 225[205]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/227>, abgerufen am 24.11.2024.
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