gebildet ist, die in Mutterleibe nicht ausgebildet werden konnte. Das vierfüßige Thier nahm in seiner Mutter vier- füßige Gestalt an und gewann ob es gleich Anfangs eben so unproportionirt am Kopf ist, wie der Mensch, zuletzt völli- ges Verhältniß; oder bei Nervenreichen Thieren, die ihre Jungen schwach gebähren, erstattet sich doch das Verhältniß der Kräfte in einigen Wochen und Tagen. Der Mensch al- lein bleibt lange schwach: denn sein Gliederbau ist, wenn ich so sagen darf, dem Haupt zuerschaffen worden, das übermäßig groß in Mutterleibe zuerst ausgebildet ward und also auf die Welt tritt. Die andern Glieder, die zu ihrem Wachsthum irrdische Nahrungsmittel, Luft und Bewegung brauchen, kommen ihm lange nicht nach, ob sie gleich durch alle Jahre der Kindheit und Jugend zu ihm und nicht das Haupt verhältnißmäßig zu ihnen wächset. Das schwache Kind ist also, wenn man will, ein Jnvalide seiner obern Kräfte und die Natur bildet diese unabläßig und am frühe- sten weiter. Ehe das Kind gehen lernt, lernt es sehen, hö- ren, greifen und die feinste Mechanik und Meßkunst dieser Sinne üben. Es übt sie so Jnstinktmäßig als das Thier; nur auf eine feinere Weise. Nicht durch angebohrne Fertig- keiten und Künste: denn alle Kunstfertigkeiten der Thiere sind Folgen gröberer Reize; und wären diese von Kindheit an herrschend da: so bliebe der Mensch ein Thier, so würde
er,
gebildet iſt, die in Mutterleibe nicht ausgebildet werden konnte. Das vierfuͤßige Thier nahm in ſeiner Mutter vier- fuͤßige Geſtalt an und gewann ob es gleich Anfangs eben ſo unproportionirt am Kopf iſt, wie der Menſch, zuletzt voͤlli- ges Verhaͤltniß; oder bei Nervenreichen Thieren, die ihre Jungen ſchwach gebaͤhren, erſtattet ſich doch das Verhaͤltniß der Kraͤfte in einigen Wochen und Tagen. Der Menſch al- lein bleibt lange ſchwach: denn ſein Gliederbau iſt, wenn ich ſo ſagen darf, dem Haupt zuerſchaffen worden, das uͤbermaͤßig groß in Mutterleibe zuerſt ausgebildet ward und alſo auf die Welt tritt. Die andern Glieder, die zu ihrem Wachsthum irrdiſche Nahrungsmittel, Luft und Bewegung brauchen, kommen ihm lange nicht nach, ob ſie gleich durch alle Jahre der Kindheit und Jugend zu ihm und nicht das Haupt verhaͤltnißmaͤßig zu ihnen waͤchſet. Das ſchwache Kind iſt alſo, wenn man will, ein Jnvalide ſeiner obern Kraͤfte und die Natur bildet dieſe unablaͤßig und am fruͤhe- ſten weiter. Ehe das Kind gehen lernt, lernt es ſehen, hoͤ- ren, greifen und die feinſte Mechanik und Meßkunſt dieſer Sinne uͤben. Es uͤbt ſie ſo Jnſtinktmaͤßig als das Thier; nur auf eine feinere Weiſe. Nicht durch angebohrne Fertig- keiten und Kuͤnſte: denn alle Kunſtfertigkeiten der Thiere ſind Folgen groͤberer Reize; und waͤren dieſe von Kindheit an herrſchend da: ſo bliebe der Menſch ein Thier, ſo wuͤrde
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[227[207]/0229]
gebildet iſt, die in Mutterleibe nicht ausgebildet werden
konnte. Das vierfuͤßige Thier nahm in ſeiner Mutter vier-
fuͤßige Geſtalt an und gewann ob es gleich Anfangs eben ſo
unproportionirt am Kopf iſt, wie der Menſch, zuletzt voͤlli-
ges Verhaͤltniß; oder bei Nervenreichen Thieren, die ihre
Jungen ſchwach gebaͤhren, erſtattet ſich doch das Verhaͤltniß
der Kraͤfte in einigen Wochen und Tagen. Der Menſch al-
lein bleibt lange ſchwach: denn ſein Gliederbau iſt, wenn
ich ſo ſagen darf, dem Haupt zuerſchaffen worden, das
uͤbermaͤßig groß in Mutterleibe zuerſt ausgebildet ward und
alſo auf die Welt tritt. Die andern Glieder, die zu ihrem
Wachsthum irrdiſche Nahrungsmittel, Luft und Bewegung
brauchen, kommen ihm lange nicht nach, ob ſie gleich durch
alle Jahre der Kindheit und Jugend zu ihm und nicht das
Haupt verhaͤltnißmaͤßig zu ihnen waͤchſet. Das ſchwache
Kind iſt alſo, wenn man will, ein Jnvalide ſeiner obern
Kraͤfte und die Natur bildet dieſe unablaͤßig und am fruͤhe-
ſten weiter. Ehe das Kind gehen lernt, lernt es ſehen, hoͤ-
ren, greifen und die feinſte Mechanik und Meßkunſt dieſer
Sinne uͤben. Es uͤbt ſie ſo Jnſtinktmaͤßig als das Thier;
nur auf eine feinere Weiſe. Nicht durch angebohrne Fertig-
keiten und Kuͤnſte: denn alle Kunſtfertigkeiten der Thiere
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 227[207]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/229>, abgerufen am 21.11.2024.
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