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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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der Menschenfresser im Durst seiner Rache und Kühnheit
strebt, wiewohl auf eine abscheuliche Art, nach dem Genuß
eines Geistes.

4. Alle Zustände, Krankheiten und Eigenheiten des
Organs also können uns nie irre machen; die Kraft, die in
ihnen wirkt, primitiv zu fühlen. Das Gedächtniß z. B.
ist nach der verschiednen Organisation der Menschen verschie-
den; bey diesen formt und erhält es sich durch Bilder, bei
jenen durch Zeichen der Abstraction, Worte oder gar Zahlen.
Jn der Jugend, wenn das Gehirn weich ist, ist es lebhaft;
im Alter, wenn sich das Gehirn härtet, wird es träge und
hält an alten Jdeen. So ists mit den übrigen Kräften der
Seele; welches alles nicht anders seyn kann, sobald eine
Kraft organisch wirket. Bemerket indeß auch hier die Ge-
setze der Aufbewahrung und Erneurung der Jdeen
:
sie sind allesamt nicht körperlich sondern geistig. Es hat
Menschen gegeben, die das Gedächtniß gewisser Jahre, ja
gewisser Theile der Rede, der Namen, Substantiven, sogar
einzelner Buchstaben und Merkzeichen verloren; das Ge-
dächtniß der vorigen Jahre, die Erinnerung andrer Theile
der Rede und der freie Gebrauch derselben blieb ihnen; die
Seele war nur an dem Einen Gliede gefesselt, da das Organ
litt. Wäre der Zusammenhang ihrer geistigen Jdeen mate-

riell:
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der Menſchenfreſſer im Durſt ſeiner Rache und Kuͤhnheit
ſtrebt, wiewohl auf eine abſcheuliche Art, nach dem Genuß
eines Geiſtes.

4. Alle Zuſtaͤnde, Krankheiten und Eigenheiten des
Organs alſo koͤnnen uns nie irre machen; die Kraft, die in
ihnen wirkt, primitiv zu fuͤhlen. Das Gedaͤchtniß z. B.
iſt nach der verſchiednen Organiſation der Menſchen verſchie-
den; bey dieſen formt und erhaͤlt es ſich durch Bilder, bei
jenen durch Zeichen der Abſtraction, Worte oder gar Zahlen.
Jn der Jugend, wenn das Gehirn weich iſt, iſt es lebhaft;
im Alter, wenn ſich das Gehirn haͤrtet, wird es traͤge und
haͤlt an alten Jdeen. So iſts mit den uͤbrigen Kraͤften der
Seele; welches alles nicht anders ſeyn kann, ſobald eine
Kraft organiſch wirket. Bemerket indeß auch hier die Ge-
ſetze der Aufbewahrung und Erneurung der Jdeen
:
ſie ſind alleſamt nicht koͤrperlich ſondern geiſtig. Es hat
Menſchen gegeben, die das Gedaͤchtniß gewiſſer Jahre, ja
gewiſſer Theile der Rede, der Namen, Subſtantiven, ſogar
einzelner Buchſtaben und Merkzeichen verloren; das Ge-
daͤchtniß der vorigen Jahre, die Erinnerung andrer Theile
der Rede und der freie Gebrauch derſelben blieb ihnen; die
Seele war nur an dem Einen Gliede gefeſſelt, da das Organ
litt. Waͤre der Zuſammenhang ihrer geiſtigen Jdeen mate-

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[295[275]/0297] der Menſchenfreſſer im Durſt ſeiner Rache und Kuͤhnheit ſtrebt, wiewohl auf eine abſcheuliche Art, nach dem Genuß eines Geiſtes. 4. Alle Zuſtaͤnde, Krankheiten und Eigenheiten des Organs alſo koͤnnen uns nie irre machen; die Kraft, die in ihnen wirkt, primitiv zu fuͤhlen. Das Gedaͤchtniß z. B. iſt nach der verſchiednen Organiſation der Menſchen verſchie- den; bey dieſen formt und erhaͤlt es ſich durch Bilder, bei jenen durch Zeichen der Abſtraction, Worte oder gar Zahlen. Jn der Jugend, wenn das Gehirn weich iſt, iſt es lebhaft; im Alter, wenn ſich das Gehirn haͤrtet, wird es traͤge und haͤlt an alten Jdeen. So iſts mit den uͤbrigen Kraͤften der Seele; welches alles nicht anders ſeyn kann, ſobald eine Kraft organiſch wirket. Bemerket indeß auch hier die Ge- ſetze der Aufbewahrung und Erneurung der Jdeen: ſie ſind alleſamt nicht koͤrperlich ſondern geiſtig. Es hat Menſchen gegeben, die das Gedaͤchtniß gewiſſer Jahre, ja gewiſſer Theile der Rede, der Namen, Subſtantiven, ſogar einzelner Buchſtaben und Merkzeichen verloren; das Ge- daͤchtniß der vorigen Jahre, die Erinnerung andrer Theile der Rede und der freie Gebrauch derſelben blieb ihnen; die Seele war nur an dem Einen Gliede gefeſſelt, da das Organ litt. Waͤre der Zuſammenhang ihrer geiſtigen Jdeen mate- riell: M m 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 295[275]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/297>, abgerufen am 10.05.2024.