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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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und fortzuwirken. Wunderbar ist die Kunst, die sie dabei
anwendet und unermeßlich der Vorrath von Hülfs- und Heil-
mitteln, den sie sich zu verschaffen weiß. Wenn einst die
Semiotik der Seele studirt werden wird, wie die Semiotik
des Körpers, wird man in allen Krankheiten derselben ihre
so eigne geistige Natur erkennen, daß die Schlüße der Mate-
rialisten wie Nebel vor der Sonne verschwinden werden.
Ja wer von diesem innern Leben seines Selbst überzeugt
ist, dem werden alle äußern Zustände, in welchen sich der Kör-
per, wie alle Materie, unabläßig verändert, mit der Zeit nur
Uebergänge, die sein Wesen nicht angehn: er schreitet aus
dieser Welt in jene so unvermerkt, wie er aus Nacht in Tag
und aus Einem Lebensalter ins andre schreitet.

Jeden Tag hat uns der Schöpfer eine eigne Erfahrung
gegeben: wie wenig Alles in unsrer Maschine von uns und
von einander unabtrennlich sei? es ist des Todes Bruder,
der balsamische Schlaf. Er scheidet die wichtigsten Verrich-
tungen unsres Lebens mit dem Finger seiner sanften Berüh-
rung: Nerven und Muskeln ruhen, die sinnlichen Empfin-
dungen hören auf; und dennoch denkt die Seele fort in ih-
rem eignen Lande. Sie ist nicht abgetrennter vom Körper
als sie wachend war, wie die dem Traum oft eingemischte
Empfindungen beweisen; und dennoch wirkt sie, nach eige-

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und fortzuwirken. Wunderbar iſt die Kunſt, die ſie dabei
anwendet und unermeßlich der Vorrath von Huͤlfs- und Heil-
mitteln, den ſie ſich zu verſchaffen weiß. Wenn einſt die
Semiotik der Seele ſtudirt werden wird, wie die Semiotik
des Koͤrpers, wird man in allen Krankheiten derſelben ihre
ſo eigne geiſtige Natur erkennen, daß die Schluͤße der Mate-
rialiſten wie Nebel vor der Sonne verſchwinden werden.
Ja wer von dieſem innern Leben ſeines Selbſt uͤberzeugt
iſt, dem werden alle aͤußern Zuſtaͤnde, in welchen ſich der Koͤr-
per, wie alle Materie, unablaͤßig veraͤndert, mit der Zeit nur
Uebergaͤnge, die ſein Weſen nicht angehn: er ſchreitet aus
dieſer Welt in jene ſo unvermerkt, wie er aus Nacht in Tag
und aus Einem Lebensalter ins andre ſchreitet.

Jeden Tag hat uns der Schoͤpfer eine eigne Erfahrung
gegeben: wie wenig Alles in unſrer Maſchine von uns und
von einander unabtrennlich ſei? es iſt des Todes Bruder,
der balſamiſche Schlaf. Er ſcheidet die wichtigſten Verrich-
tungen unſres Lebens mit dem Finger ſeiner ſanften Beruͤh-
rung: Nerven und Muskeln ruhen, die ſinnlichen Empfin-
dungen hoͤren auf; und dennoch denkt die Seele fort in ih-
rem eignen Lande. Sie iſt nicht abgetrennter vom Koͤrper
als ſie wachend war, wie die dem Traum oft eingemiſchte
Empfindungen beweiſen; und dennoch wirkt ſie, nach eige-

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[297[277]/0299] und fortzuwirken. Wunderbar iſt die Kunſt, die ſie dabei anwendet und unermeßlich der Vorrath von Huͤlfs- und Heil- mitteln, den ſie ſich zu verſchaffen weiß. Wenn einſt die Semiotik der Seele ſtudirt werden wird, wie die Semiotik des Koͤrpers, wird man in allen Krankheiten derſelben ihre ſo eigne geiſtige Natur erkennen, daß die Schluͤße der Mate- rialiſten wie Nebel vor der Sonne verſchwinden werden. Ja wer von dieſem innern Leben ſeines Selbſt uͤberzeugt iſt, dem werden alle aͤußern Zuſtaͤnde, in welchen ſich der Koͤr- per, wie alle Materie, unablaͤßig veraͤndert, mit der Zeit nur Uebergaͤnge, die ſein Weſen nicht angehn: er ſchreitet aus dieſer Welt in jene ſo unvermerkt, wie er aus Nacht in Tag und aus Einem Lebensalter ins andre ſchreitet. Jeden Tag hat uns der Schoͤpfer eine eigne Erfahrung gegeben: wie wenig Alles in unſrer Maſchine von uns und von einander unabtrennlich ſei? es iſt des Todes Bruder, der balſamiſche Schlaf. Er ſcheidet die wichtigſten Verrich- tungen unſres Lebens mit dem Finger ſeiner ſanften Beruͤh- rung: Nerven und Muskeln ruhen, die ſinnlichen Empfin- dungen hoͤren auf; und dennoch denkt die Seele fort in ih- rem eignen Lande. Sie iſt nicht abgetrennter vom Koͤrper als ſie wachend war, wie die dem Traum oft eingemiſchte Empfindungen beweiſen; und dennoch wirkt ſie, nach eige- nen M m 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 297[277]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/299>, abgerufen am 29.11.2024.