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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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dern physiologisch und wirklich ein Analogon des Todes
sind; warum sollten es nicht auch seine geistige Symptome
seyn? Und so bleibt uns, wenn uns der Todesschlaf aus
Krankheit oder Mattigkeit befällt, Hofnung, daß auch
er, wie der Schlaf, nur das Fieber des Lebens kühle,
die zu einförmig und lang-fortgesetzte Bewegung sanft um-
lenke, manche für dies Leben unheilbaren Wunden heile und
die Seele zu einem frohen Erwachen, zum Genuß eines neuen
Jugendmorgens bereite. Wie im Traum meine Gedanken
in die Jugend zurückkehren, wie ich in ihm, nur halb entfes-
selt von einigen Organen, aber zurückgedrängter in mich
selbst, mich freier und thätiger fühle: so wirst auch du, er-
quickender Todestraum, die Jugend meines Lebens, die schön-
sten und kräftigsten Augenblicke meines Daseyns mir schmei-
chelnd zurückführen, bis ich erwache in ihrem -- oder viel-
mehr im schönern Bilde einer himmlischen Jugend.

V.
Unsre Humanität ist nur Vorübung, die Knospe
zu einer zukünftigen Blume.



Wir sahen, daß der Zweck unsres jetzigen Daseyns auf
Bildung der Humanität gerichtet sei, der alle niedrige Be-

dürfnisse

dern phyſiologiſch und wirklich ein Analogon des Todes
ſind; warum ſollten es nicht auch ſeine geiſtige Symptome
ſeyn? Und ſo bleibt uns, wenn uns der Todesſchlaf aus
Krankheit oder Mattigkeit befaͤllt, Hofnung, daß auch
er, wie der Schlaf, nur das Fieber des Lebens kuͤhle,
die zu einfoͤrmig und lang-fortgeſetzte Bewegung ſanft um-
lenke, manche fuͤr dies Leben unheilbaren Wunden heile und
die Seele zu einem frohen Erwachen, zum Genuß eines neuen
Jugendmorgens bereite. Wie im Traum meine Gedanken
in die Jugend zuruͤckkehren, wie ich in ihm, nur halb entfeſ-
ſelt von einigen Organen, aber zuruͤckgedraͤngter in mich
ſelbſt, mich freier und thaͤtiger fuͤhle: ſo wirſt auch du, er-
quickender Todestraum, die Jugend meines Lebens, die ſchoͤn-
ſten und kraͤftigſten Augenblicke meines Daſeyns mir ſchmei-
chelnd zuruͤckfuͤhren, bis ich erwache in ihrem — oder viel-
mehr im ſchoͤnern Bilde einer himmliſchen Jugend.

V.
Unſre Humanitaͤt iſt nur Voruͤbung, die Knoſpe
zu einer zukuͤnftigen Blume.



Wir ſahen, daß der Zweck unſres jetzigen Daſeyns auf
Bildung der Humanitaͤt gerichtet ſei, der alle niedrige Be-

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[299[279]/0301] dern phyſiologiſch und wirklich ein Analogon des Todes ſind; warum ſollten es nicht auch ſeine geiſtige Symptome ſeyn? Und ſo bleibt uns, wenn uns der Todesſchlaf aus Krankheit oder Mattigkeit befaͤllt, Hofnung, daß auch er, wie der Schlaf, nur das Fieber des Lebens kuͤhle, die zu einfoͤrmig und lang-fortgeſetzte Bewegung ſanft um- lenke, manche fuͤr dies Leben unheilbaren Wunden heile und die Seele zu einem frohen Erwachen, zum Genuß eines neuen Jugendmorgens bereite. Wie im Traum meine Gedanken in die Jugend zuruͤckkehren, wie ich in ihm, nur halb entfeſ- ſelt von einigen Organen, aber zuruͤckgedraͤngter in mich ſelbſt, mich freier und thaͤtiger fuͤhle: ſo wirſt auch du, er- quickender Todestraum, die Jugend meines Lebens, die ſchoͤn- ſten und kraͤftigſten Augenblicke meines Daſeyns mir ſchmei- chelnd zuruͤckfuͤhren, bis ich erwache in ihrem — oder viel- mehr im ſchoͤnern Bilde einer himmliſchen Jugend. V. Unſre Humanitaͤt iſt nur Voruͤbung, die Knoſpe zu einer zukuͤnftigen Blume. Wir ſahen, daß der Zweck unſres jetzigen Daſeyns auf Bildung der Humanitaͤt gerichtet ſei, der alle niedrige Be- duͤrfniſſe

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 299[279]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/301>, abgerufen am 27.04.2024.