Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

chung desselben so künstlich zusammengeleitet hat: oder dieser
Zweck geht über unser Daseyn hinaus und die Erde ist nur
ein Uebungsplatz, eine Vorbereitungsstäte. Auf ihr
mußte freilich noch viel Niedriges dem Erhabensten zugesellet
werden und der Mensch im Ganzen ist nur eine kleine Stufe
über das Thier erhoben. Ja auch unter den Menschen selbst
mußte die größeste Verschiedenheit statt finden, da alles auf
der Erde so vielartig ist und in manchen Gegenden und Zu-
ständen unser Geschlecht so tief unter dem Joch des Klima
und der Nothdurft lieget. Der Entwurf der bildenden Vor-
sehung muß also alle diese Stufen, diese Zonen, diese Abar-
tungen mit einem Blick umfaßt haben und den Menschen
in ihnen allen weiter zu führen wissen, wie er die niedrigen
Kräfte allmälich und ihnen unbewußt höher führet. Es ist
befremdend und doch unläugbar, daß unter allen Erdbewoh-
nern das menschliche Geschlecht dem Ziel seiner Bestimmung
am meisten fern bleibt. Jedes Thier erreicht, was es in sei-
ner Organisation erreichen soll; der einzige Mensch erreichts
nicht, eben weil sein Ziel so hoch, so weit, so unendlich ist und
er auf unsrer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen
von außen und innen anfängt. Dem Thier ist die Mutter-
gabe der Natur, sein Jnstinkt, der sichre Führer; es ist noch
als Knecht im Hause des obersten Vaters und muß gehor-
chen. Der Mensch ist schon als Kind in demselben und

soll,
N n

chung deſſelben ſo kuͤnſtlich zuſammengeleitet hat: oder dieſer
Zweck geht uͤber unſer Daſeyn hinaus und die Erde iſt nur
ein Uebungsplatz, eine Vorbereitungsſtaͤte. Auf ihr
mußte freilich noch viel Niedriges dem Erhabenſten zugeſellet
werden und der Menſch im Ganzen iſt nur eine kleine Stufe
uͤber das Thier erhoben. Ja auch unter den Menſchen ſelbſt
mußte die groͤßeſte Verſchiedenheit ſtatt finden, da alles auf
der Erde ſo vielartig iſt und in manchen Gegenden und Zu-
ſtaͤnden unſer Geſchlecht ſo tief unter dem Joch des Klima
und der Nothdurft lieget. Der Entwurf der bildenden Vor-
ſehung muß alſo alle dieſe Stufen, dieſe Zonen, dieſe Abar-
tungen mit einem Blick umfaßt haben und den Menſchen
in ihnen allen weiter zu fuͤhren wiſſen, wie er die niedrigen
Kraͤfte allmaͤlich und ihnen unbewußt hoͤher fuͤhret. Es iſt
befremdend und doch unlaͤugbar, daß unter allen Erdbewoh-
nern das menſchliche Geſchlecht dem Ziel ſeiner Beſtimmung
am meiſten fern bleibt. Jedes Thier erreicht, was es in ſei-
ner Organiſation erreichen ſoll; der einzige Menſch erreichts
nicht, eben weil ſein Ziel ſo hoch, ſo weit, ſo unendlich iſt und
er auf unſrer Erde ſo tief, ſo ſpaͤt, mit ſo viel Hinderniſſen
von außen und innen anfaͤngt. Dem Thier iſt die Mutter-
gabe der Natur, ſein Jnſtinkt, der ſichre Fuͤhrer; es iſt noch
als Knecht im Hauſe des oberſten Vaters und muß gehor-
chen. Der Menſch iſt ſchon als Kind in demſelben und

ſoll,
N n
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0303" n="301[281]"/>
chung de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;tlich zu&#x017F;ammengeleitet hat: oder die&#x017F;er<lb/>
Zweck geht u&#x0364;ber un&#x017F;er Da&#x017F;eyn hinaus und die Erde i&#x017F;t nur<lb/>
ein <hi rendition="#fr">Uebungsplatz</hi>, eine <hi rendition="#fr">Vorbereitungs&#x017F;ta&#x0364;te</hi>. Auf ihr<lb/>
mußte freilich noch viel Niedriges dem Erhaben&#x017F;ten zuge&#x017F;ellet<lb/>
werden und der Men&#x017F;ch im Ganzen i&#x017F;t nur eine kleine Stufe<lb/>
u&#x0364;ber das Thier erhoben. Ja auch unter den Men&#x017F;chen &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
mußte die gro&#x0364;ße&#x017F;te Ver&#x017F;chiedenheit &#x017F;tatt finden, da alles auf<lb/>
der Erde &#x017F;o vielartig i&#x017F;t und in manchen Gegenden und Zu-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden un&#x017F;er Ge&#x017F;chlecht &#x017F;o tief unter dem Joch des Klima<lb/>
und der Nothdurft lieget. Der Entwurf der bildenden Vor-<lb/>
&#x017F;ehung muß al&#x017F;o alle die&#x017F;e Stufen, die&#x017F;e Zonen, die&#x017F;e Abar-<lb/>
tungen mit einem Blick umfaßt haben und den Men&#x017F;chen<lb/>
in ihnen allen weiter zu fu&#x0364;hren wi&#x017F;&#x017F;en, wie er die niedrigen<lb/>
Kra&#x0364;fte allma&#x0364;lich und ihnen unbewußt ho&#x0364;her fu&#x0364;hret. Es i&#x017F;t<lb/>
befremdend und doch unla&#x0364;ugbar, daß unter allen Erdbewoh-<lb/>
nern das men&#x017F;chliche Ge&#x017F;chlecht dem Ziel &#x017F;einer Be&#x017F;timmung<lb/>
am mei&#x017F;ten fern bleibt. Jedes Thier erreicht, was es in &#x017F;ei-<lb/>
ner Organi&#x017F;ation erreichen &#x017F;oll; der einzige Men&#x017F;ch erreichts<lb/>
nicht, eben weil &#x017F;ein Ziel &#x017F;o hoch, &#x017F;o weit, &#x017F;o unendlich i&#x017F;t und<lb/>
er auf un&#x017F;rer Erde &#x017F;o tief, &#x017F;o &#x017F;pa&#x0364;t, mit &#x017F;o viel Hinderni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
von außen und innen anfa&#x0364;ngt. Dem Thier i&#x017F;t die Mutter-<lb/>
gabe der Natur, &#x017F;ein Jn&#x017F;tinkt, der &#x017F;ichre Fu&#x0364;hrer; es i&#x017F;t noch<lb/>
als Knecht im Hau&#x017F;e des ober&#x017F;ten Vaters und muß gehor-<lb/>
chen. Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t &#x017F;chon als Kind in dem&#x017F;elben und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N n</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;oll,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301[281]/0303] chung deſſelben ſo kuͤnſtlich zuſammengeleitet hat: oder dieſer Zweck geht uͤber unſer Daſeyn hinaus und die Erde iſt nur ein Uebungsplatz, eine Vorbereitungsſtaͤte. Auf ihr mußte freilich noch viel Niedriges dem Erhabenſten zugeſellet werden und der Menſch im Ganzen iſt nur eine kleine Stufe uͤber das Thier erhoben. Ja auch unter den Menſchen ſelbſt mußte die groͤßeſte Verſchiedenheit ſtatt finden, da alles auf der Erde ſo vielartig iſt und in manchen Gegenden und Zu- ſtaͤnden unſer Geſchlecht ſo tief unter dem Joch des Klima und der Nothdurft lieget. Der Entwurf der bildenden Vor- ſehung muß alſo alle dieſe Stufen, dieſe Zonen, dieſe Abar- tungen mit einem Blick umfaßt haben und den Menſchen in ihnen allen weiter zu fuͤhren wiſſen, wie er die niedrigen Kraͤfte allmaͤlich und ihnen unbewußt hoͤher fuͤhret. Es iſt befremdend und doch unlaͤugbar, daß unter allen Erdbewoh- nern das menſchliche Geſchlecht dem Ziel ſeiner Beſtimmung am meiſten fern bleibt. Jedes Thier erreicht, was es in ſei- ner Organiſation erreichen ſoll; der einzige Menſch erreichts nicht, eben weil ſein Ziel ſo hoch, ſo weit, ſo unendlich iſt und er auf unſrer Erde ſo tief, ſo ſpaͤt, mit ſo viel Hinderniſſen von außen und innen anfaͤngt. Dem Thier iſt die Mutter- gabe der Natur, ſein Jnſtinkt, der ſichre Fuͤhrer; es iſt noch als Knecht im Hauſe des oberſten Vaters und muß gehor- chen. Der Menſch iſt ſchon als Kind in demſelben und ſoll, N n

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/303
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 301[281]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/303>, abgerufen am 28.04.2024.