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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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den besten, wie fein und zart ist die ihnen aufgepflanzte gött-
liche Blume! Lebenslang will das Thier über den Menschen
herrschen und die meisten lassen es nach Gefallen über sich re-
gieren. Es ziehet also unaufhörlich nieder, wenn der Geist
hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; und da
für ein sinnliches Geschöpf die Gegenwart immer lebhafter
ist, als die Entfernung, und das Sichtbare mächtiger auf
dasselbe wirkt, als das Unsichtbare: so ist leicht zu erachten,
wohin die Waage der beiden Gewichte überschlagen werde.
Wie wenig reiner Freuden, wie wenig reiner Erkenntniß und
Tugend ist der Mensch fähig! und wenn er ihrer fähig wäre,
wie wenig ist er an sie gewöhnt! Die edelsten Verbindungen
hienieden werden von niedrigen Trieben, wie die Schiffarth
des Lebens von widrigen Winden gestört und der Schö-
pfer, barmherzig-strenge, hat beide Verwirrungen in einan-
der geordnet, um Eine durch die andre zu zähmen und die
Sprosse der Unsterblichkeit mehr durch rauhe Winde als durch
schmeichelnde Weste in uns zu erziehen. Ein vielversuchter
Mensch hat viel gelernet: ein träger und müßiger weiß nicht,
was in ihm liegt, noch weniger weiß er mit selbstgefühlter
Freude, was er kann und vermag. Das Leben ist also ein
Kampf und die Blume der reinen, unsterblichen Humanität
eine schwererrungene Krone. Den Läufern steht das Ziel am
Ende; den Kämpfern um die Tugend wird der Kranz im
Tode.


3. Wenn
O o 2

den beſten, wie fein und zart iſt die ihnen aufgepflanzte goͤtt-
liche Blume! Lebenslang will das Thier uͤber den Menſchen
herrſchen und die meiſten laſſen es nach Gefallen uͤber ſich re-
gieren. Es ziehet alſo unaufhoͤrlich nieder, wenn der Geiſt
hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; und da
fuͤr ein ſinnliches Geſchoͤpf die Gegenwart immer lebhafter
iſt, als die Entfernung, und das Sichtbare maͤchtiger auf
daſſelbe wirkt, als das Unſichtbare: ſo iſt leicht zu erachten,
wohin die Waage der beiden Gewichte uͤberſchlagen werde.
Wie wenig reiner Freuden, wie wenig reiner Erkenntniß und
Tugend iſt der Menſch faͤhig! und wenn er ihrer faͤhig waͤre,
wie wenig iſt er an ſie gewoͤhnt! Die edelſten Verbindungen
hienieden werden von niedrigen Trieben, wie die Schiffarth
des Lebens von widrigen Winden geſtoͤrt und der Schoͤ-
pfer, barmherzig-ſtrenge, hat beide Verwirrungen in einan-
der geordnet, um Eine durch die andre zu zaͤhmen und die
Sproſſe der Unſterblichkeit mehr durch rauhe Winde als durch
ſchmeichelnde Weſte in uns zu erziehen. Ein vielverſuchter
Menſch hat viel gelernet: ein traͤger und muͤßiger weiß nicht,
was in ihm liegt, noch weniger weiß er mit ſelbſtgefuͤhlter
Freude, was er kann und vermag. Das Leben iſt alſo ein
Kampf und die Blume der reinen, unſterblichen Humanitaͤt
eine ſchwererrungene Krone. Den Laͤufern ſteht das Ziel am
Ende; den Kaͤmpfern um die Tugend wird der Kranz im
Tode.


3. Wenn
O o 2
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[311[291]/0313] den beſten, wie fein und zart iſt die ihnen aufgepflanzte goͤtt- liche Blume! Lebenslang will das Thier uͤber den Menſchen herrſchen und die meiſten laſſen es nach Gefallen uͤber ſich re- gieren. Es ziehet alſo unaufhoͤrlich nieder, wenn der Geiſt hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; und da fuͤr ein ſinnliches Geſchoͤpf die Gegenwart immer lebhafter iſt, als die Entfernung, und das Sichtbare maͤchtiger auf daſſelbe wirkt, als das Unſichtbare: ſo iſt leicht zu erachten, wohin die Waage der beiden Gewichte uͤberſchlagen werde. Wie wenig reiner Freuden, wie wenig reiner Erkenntniß und Tugend iſt der Menſch faͤhig! und wenn er ihrer faͤhig waͤre, wie wenig iſt er an ſie gewoͤhnt! Die edelſten Verbindungen hienieden werden von niedrigen Trieben, wie die Schiffarth des Lebens von widrigen Winden geſtoͤrt und der Schoͤ- pfer, barmherzig-ſtrenge, hat beide Verwirrungen in einan- der geordnet, um Eine durch die andre zu zaͤhmen und die Sproſſe der Unſterblichkeit mehr durch rauhe Winde als durch ſchmeichelnde Weſte in uns zu erziehen. Ein vielverſuchter Menſch hat viel gelernet: ein traͤger und muͤßiger weiß nicht, was in ihm liegt, noch weniger weiß er mit ſelbſtgefuͤhlter Freude, was er kann und vermag. Das Leben iſt alſo ein Kampf und die Blume der reinen, unſterblichen Humanitaͤt eine ſchwererrungene Krone. Den Laͤufern ſteht das Ziel am Ende; den Kaͤmpfern um die Tugend wird der Kranz im Tode. 3. Wenn O o 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 311[291]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/313>, abgerufen am 27.04.2024.