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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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portion erfordert wurde, dem Einem Gewicht seine Freiheit
zu geben und die Macht desselben zu zeigen. Der Ausdruck
Leibnitz, daß die Seele ein Spiegel des Weltalls sei, ent-
hält vielleicht eine tiefere Wahrheit, als die man aus ihm
zu entwickeln pfleget; denn auch die Kräfte eines Weltalls
scheinen in ihr verborgen und sie bedarf nur einer Organisa-
tion oder einer Reihe von Organisationen, diese in Thätig-
keit und Uebung setzen zu dörfen. Der Allgütige wird ihr
diese Organisationen nicht versagen und er gängelt sie als ein
Kind, sie zur Fülle des wachsenden Genusses, im Wahn ei-
gen erworbener Kräfte und Sinne allmälich zu bereiten,
Schon in ihren gegenwärtigen Fesseln sind ihr Raum und
Zeit leere Worte: sie messen und bezeichnen Verhältnisse des
Körpers, nicht aber ihres innern Vermögens, das über Raum
und Zeit hinaus ist, wenn es in seiner vollen innigen Freude
wirket. Um Ort und Stunde deines künftigen Daseyns gib
dir also keine Mühe; die Sonne, die deinem Tage leuchtet,
misset dir deine Wohnung und dein Erdengeschäft und
verdunkelt dir so lange alle himmlische Sterne. Sobald sie
untergeht, erscheint die Welt in ihrer größern Gestalt: die
heilige Nacht, in der du einst eingewickelt lagest und einst
eingewickelt liegen wirst, bedeckt deine Erde mit Schatten
und schlägt dir dafür am Himmel die glänzenden Bücher der

Un-

portion erfordert wurde, dem Einem Gewicht ſeine Freiheit
zu geben und die Macht deſſelben zu zeigen. Der Ausdruck
Leibnitz, daß die Seele ein Spiegel des Weltalls ſei, ent-
haͤlt vielleicht eine tiefere Wahrheit, als die man aus ihm
zu entwickeln pfleget; denn auch die Kraͤfte eines Weltalls
ſcheinen in ihr verborgen und ſie bedarf nur einer Organiſa-
tion oder einer Reihe von Organiſationen, dieſe in Thaͤtig-
keit und Uebung ſetzen zu doͤrfen. Der Allguͤtige wird ihr
dieſe Organiſationen nicht verſagen und er gaͤngelt ſie als ein
Kind, ſie zur Fuͤlle des wachſenden Genuſſes, im Wahn ei-
gen erworbener Kraͤfte und Sinne allmaͤlich zu bereiten,
Schon in ihren gegenwaͤrtigen Feſſeln ſind ihr Raum und
Zeit leere Worte: ſie meſſen und bezeichnen Verhaͤltniſſe des
Koͤrpers, nicht aber ihres innern Vermoͤgens, das uͤber Raum
und Zeit hinaus iſt, wenn es in ſeiner vollen innigen Freude
wirket. Um Ort und Stunde deines kuͤnftigen Daſeyns gib
dir alſo keine Muͤhe; die Sonne, die deinem Tage leuchtet,
miſſet dir deine Wohnung und dein Erdengeſchaͤft und
verdunkelt dir ſo lange alle himmliſche Sterne. Sobald ſie
untergeht, erſcheint die Welt in ihrer groͤßern Geſtalt: die
heilige Nacht, in der du einſt eingewickelt lageſt und einſt
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[316[296]/0318] portion erfordert wurde, dem Einem Gewicht ſeine Freiheit zu geben und die Macht deſſelben zu zeigen. Der Ausdruck Leibnitz, daß die Seele ein Spiegel des Weltalls ſei, ent- haͤlt vielleicht eine tiefere Wahrheit, als die man aus ihm zu entwickeln pfleget; denn auch die Kraͤfte eines Weltalls ſcheinen in ihr verborgen und ſie bedarf nur einer Organiſa- tion oder einer Reihe von Organiſationen, dieſe in Thaͤtig- keit und Uebung ſetzen zu doͤrfen. Der Allguͤtige wird ihr dieſe Organiſationen nicht verſagen und er gaͤngelt ſie als ein Kind, ſie zur Fuͤlle des wachſenden Genuſſes, im Wahn ei- gen erworbener Kraͤfte und Sinne allmaͤlich zu bereiten, Schon in ihren gegenwaͤrtigen Feſſeln ſind ihr Raum und Zeit leere Worte: ſie meſſen und bezeichnen Verhaͤltniſſe des Koͤrpers, nicht aber ihres innern Vermoͤgens, das uͤber Raum und Zeit hinaus iſt, wenn es in ſeiner vollen innigen Freude wirket. Um Ort und Stunde deines kuͤnftigen Daſeyns gib dir alſo keine Muͤhe; die Sonne, die deinem Tage leuchtet, miſſet dir deine Wohnung und dein Erdengeſchaͤft und verdunkelt dir ſo lange alle himmliſche Sterne. Sobald ſie untergeht, erſcheint die Welt in ihrer groͤßern Geſtalt: die heilige Nacht, in der du einſt eingewickelt lageſt und einſt eingewickelt liegen wirſt, bedeckt deine Erde mit Schatten und ſchlaͤgt dir dafuͤr am Himmel die glaͤnzenden Buͤcher der Un-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 316[296]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/318>, abgerufen am 28.04.2024.