Grasarten, Schimmel und Moosen schon an jene kahlen Fel- sen an, die noch keinem Fuß eines Lebendigen Wohnung ge- währen. Wo nur ein Körnchen lockere Erde ihren Samen aufnehmen kann und ein Blick der Sonne ihn erwärmt, ge- het sie auf und stirbt in einem fruchtbaren Tode, indem ihr Staub andern Gewächsen zur bessern Mutterhülle dienet. So werden Felsen begraset und beblümt: so werden Morä- ste mit der Zeit zu einer Kräuter- und Blumenwüste. Die verwesete wilde Pflanzenschöpfung ist das immer fortwirken- de Treibhaus der Natur zur Organisation der Geschöpfe und zur weitern Cultur der Erde.
Es fällt in die Augen, daß das menschliche Leben, so- fern es Vegetation ist, auch das Schicksal der Pflanzen habe. Wie sie, wird Mensch und Thier aus einem Samen geboh- ren, der auch als Keim eines künftigen Baums eine Mut- terhülle fodert. Sein erstes Gebilde entwickelt sich Pflan- zenartig im Mutterleibe; ja auch außer demselben ist unser Fiberngebäude in seinen ersten Sprossen und Kräften nicht fast der Sensitiva ähnlich? Unsre Lebensalter sind die Lebens- alter der Pflanze; wir gehen auf, wachsen, blühen, blühen ab und sterben. Ohn unsern Willen werden wir hervorge- rufen und niemand wird gefragt: welches Geschlechts er
seyn?
Grasarten, Schimmel und Mooſen ſchon an jene kahlen Fel- ſen an, die noch keinem Fuß eines Lebendigen Wohnung ge- waͤhren. Wo nur ein Koͤrnchen lockere Erde ihren Samen aufnehmen kann und ein Blick der Sonne ihn erwaͤrmt, ge- het ſie auf und ſtirbt in einem fruchtbaren Tode, indem ihr Staub andern Gewaͤchſen zur beſſern Mutterhuͤlle dienet. So werden Felſen begraſet und bebluͤmt: ſo werden Moraͤ- ſte mit der Zeit zu einer Kraͤuter- und Blumenwuͤſte. Die verweſete wilde Pflanzenſchoͤpfung iſt das immer fortwirken- de Treibhaus der Natur zur Organiſation der Geſchoͤpfe und zur weitern Cultur der Erde.
Es faͤllt in die Augen, daß das menſchliche Leben, ſo- fern es Vegetation iſt, auch das Schickſal der Pflanzen habe. Wie ſie, wird Menſch und Thier aus einem Samen geboh- ren, der auch als Keim eines kuͤnftigen Baums eine Mut- terhuͤlle fodert. Sein erſtes Gebilde entwickelt ſich Pflan- zenartig im Mutterleibe; ja auch außer demſelben iſt unſer Fiberngebaͤude in ſeinen erſten Sproſſen und Kraͤften nicht faſt der Senſitiva aͤhnlich? Unſre Lebensalter ſind die Lebens- alter der Pflanze; wir gehen auf, wachſen, bluͤhen, bluͤhen ab und ſterben. Ohn unſern Willen werden wir hervorge- rufen und niemand wird gefragt: welches Geſchlechts er
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Grasarten, Schimmel und Mooſen ſchon an jene kahlen Fel-
ſen an, die noch keinem Fuß eines Lebendigen Wohnung ge-
waͤhren. Wo nur ein Koͤrnchen lockere Erde ihren Samen
aufnehmen kann und ein Blick der Sonne ihn erwaͤrmt, ge-
het ſie auf und ſtirbt in einem fruchtbaren Tode, indem ihr
Staub andern Gewaͤchſen zur beſſern Mutterhuͤlle dienet.
So werden Felſen begraſet und bebluͤmt: ſo werden Moraͤ-
ſte mit der Zeit zu einer Kraͤuter- und Blumenwuͤſte. Die
verweſete wilde Pflanzenſchoͤpfung iſt das immer fortwirken-
de Treibhaus der Natur zur Organiſation der Geſchoͤpfe und
zur weitern Cultur der Erde.
Es faͤllt in die Augen, daß das menſchliche Leben, ſo-
fern es Vegetation iſt, auch das Schickſal der Pflanzen habe.
Wie ſie, wird Menſch und Thier aus einem Samen geboh-
ren, der auch als Keim eines kuͤnftigen Baums eine Mut-
terhuͤlle fodert. Sein erſtes Gebilde entwickelt ſich Pflan-
zenartig im Mutterleibe; ja auch außer demſelben iſt unſer
Fiberngebaͤude in ſeinen erſten Sproſſen und Kraͤften nicht
faſt der Senſitiva aͤhnlich? Unſre Lebensalter ſind die Lebens-
alter der Pflanze; wir gehen auf, wachſen, bluͤhen, bluͤhen
ab und ſterben. Ohn unſern Willen werden wir hervorge-
rufen und niemand wird gefragt: welches Geſchlechts er
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/88>, abgerufen am 21.11.2024.
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