genieße, was ihm vorliegt und sich, so wenig es seyn kann, mit zurück- oder vorwärts blickenden Sorgen theile. Erhält er sich auf diesem Mittelpunkt fest: so ist er ganz und kräftig; irret er aber, wenn er allein an das Jetzt denken und dasselbe genießen soll mit seinen Gedanken umher: o wie zerreißet er sich und wird schwach und lebt oft mühseliger als die zu ih- rem Glück enge-beschränkten Thiere. Das Auge des unbe- fangenen Naturmenschen blickt auf die Natur und erquickt sich, ohne es zu wissen, schon an ihrem Gewande; oder es arbei- tet in seinem Geschäft und indem es die Abwechselung der Jahreszeiten genießt, altert es kaum im höchsten Alter. Un- zerstreuet von Halbgedanken und unverwirrt von schriftlichen Zügen höret das Ohr ganz, was es höret; es trinkt die Rede in sich, die wenn sie auf bestimmte Gegenstände weiset, die Seele mehr als eine Reihe tauber Abstractionen befriedigt. So lebet, so stirbt der Wilde, satt aber nicht überdrüßig der einfachen Vergnügen, die ihm seine Sinne gaben.
Aber noch Ein wohlthätiges Geschenk verlieh die Natur unserm Geschlecht, da sie auch den Gedankendürftigsten Glie- dern desselben die erste Sprosse der feinern Sinnlichkeit, die erquickende Tonkunst nicht versagte. Ehe das Kind sprechen kann, ist es des Gesanges oder wenigstens der ihm zutönenden Reize desselben fähig; auch unter den ungebildeten Völkern
ist
genieße, was ihm vorliegt und ſich, ſo wenig es ſeyn kann, mit zuruͤck- oder vorwaͤrts blickenden Sorgen theile. Erhaͤlt er ſich auf dieſem Mittelpunkt feſt: ſo iſt er ganz und kraͤftig; irret er aber, wenn er allein an das Jetzt denken und daſſelbe genießen ſoll mit ſeinen Gedanken umher: o wie zerreißet er ſich und wird ſchwach und lebt oft muͤhſeliger als die zu ih- rem Gluͤck enge-beſchraͤnkten Thiere. Das Auge des unbe- fangenen Naturmenſchen blickt auf die Natur und erquickt ſich, ohne es zu wiſſen, ſchon an ihrem Gewande; oder es arbei- tet in ſeinem Geſchaͤft und indem es die Abwechſelung der Jahreszeiten genießt, altert es kaum im hoͤchſten Alter. Un- zerſtreuet von Halbgedanken und unverwirrt von ſchriftlichen Zuͤgen hoͤret das Ohr ganz, was es hoͤret; es trinkt die Rede in ſich, die wenn ſie auf beſtimmte Gegenſtaͤnde weiſet, die Seele mehr als eine Reihe tauber Abſtractionen befriedigt. So lebet, ſo ſtirbt der Wilde, ſatt aber nicht uͤberdruͤßig der einfachen Vergnuͤgen, die ihm ſeine Sinne gaben.
Aber noch Ein wohlthaͤtiges Geſchenk verlieh die Natur unſerm Geſchlecht, da ſie auch den Gedankenduͤrftigſten Glie- dern deſſelben die erſte Sproſſe der feinern Sinnlichkeit, die erquickende Tonkunſt nicht verſagte. Ehe das Kind ſprechen kann, iſt es des Geſanges oder wenigſtens der ihm zutoͤnenden Reize deſſelben faͤhig; auch unter den ungebildeten Voͤlkern
iſt
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genieße, was ihm vorliegt und ſich, ſo wenig es ſeyn kann,
mit zuruͤck- oder vorwaͤrts blickenden Sorgen theile. Erhaͤlt
er ſich auf dieſem Mittelpunkt feſt: ſo iſt er ganz und kraͤftig;
irret er aber, wenn er allein an das Jetzt denken und daſſelbe
genießen ſoll mit ſeinen Gedanken umher: o wie zerreißet er
ſich und wird ſchwach und lebt oft muͤhſeliger als die zu ih-
rem Gluͤck enge-beſchraͤnkten Thiere. Das Auge des unbe-
fangenen Naturmenſchen blickt auf die Natur und erquickt ſich,
ohne es zu wiſſen, ſchon an ihrem Gewande; oder es arbei-
tet in ſeinem Geſchaͤft und indem es die Abwechſelung der
Jahreszeiten genießt, altert es kaum im hoͤchſten Alter. Un-
zerſtreuet von Halbgedanken und unverwirrt von ſchriftlichen
Zuͤgen hoͤret das Ohr ganz, was es hoͤret; es trinkt die Rede
in ſich, die wenn ſie auf beſtimmte Gegenſtaͤnde weiſet, die
Seele mehr als eine Reihe tauber Abſtractionen befriedigt.
So lebet, ſo ſtirbt der Wilde, ſatt aber nicht uͤberdruͤßig der
einfachen Vergnuͤgen, die ihm ſeine Sinne gaben.
Aber noch Ein wohlthaͤtiges Geſchenk verlieh die Natur
unſerm Geſchlecht, da ſie auch den Gedankenduͤrftigſten Glie-
dern deſſelben die erſte Sproſſe der feinern Sinnlichkeit, die
erquickende Tonkunſt nicht verſagte. Ehe das Kind ſprechen
kann, iſt es des Geſanges oder wenigſtens der ihm zutoͤnenden
Reize deſſelben faͤhig; auch unter den ungebildeten Voͤlkern
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/152>, abgerufen am 22.12.2024.
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