Antw. Sie sind alle ehedem Grönländer oder Thiere gewesen, die durch besondre Zufälle dahinauf gefahren sind und nach Verschiedenheit ihrer Speise blaß oder roth glänzen. Jene die sich begegnen, sind zwei Weiber, die einander besu- chen: dieser schießende Stern ist eine zum Besuch reisende Seele. Dies große Gestirn (der Bär) ist ein Rennthier: jene Siebensterne sind Hunde, die einen Bären hetzen: jene (Orions Gürtel) sind Verwilderte, die vom Seehundfange nicht nach Hause finden konnten und unter die Sterne kamen. Mond und Sonne sind zwei leibliche Geschwister. Malina, die Schwester, wurde von ihrem Bruder im Finstern verfolgt: sie wollte sich mit der Flucht retten, fuhr in die Höhe und ward zur Sonne. Anninga fuhr ihr nach und ward zum Monde: noch immer läuft der Mond um die jungfräuliche Sonne um- her, in Hoffnung sie zu haschen, aber vergebens. Müde und abgezehrt (beim letzten Viertheil) fährt er auf den Seehund- fang, bleibt einige Tage aus und kommt so fett wieder, wie wir ihn im Vollmond sehen. Er freut sich wenn Weiber ster- ben und die Sonne hat ihre Lust an der Männer Tode." --
Niemand würde mirs danken, wenn ich fortführe, die Phantasieen mehrerer Völker also zu zeichnen. Fände sich jemand, der dies Reich der Einbildungen, den wahren Lim- bus der Eitelkeit, der unsre Erde umgiebt, zu durchreisen Lust
hätte:
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Antw. Sie ſind alle ehedem Groͤnlaͤnder oder Thiere geweſen, die durch beſondre Zufaͤlle dahinauf gefahren ſind und nach Verſchiedenheit ihrer Speiſe blaß oder roth glaͤnzen. Jene die ſich begegnen, ſind zwei Weiber, die einander beſu- chen: dieſer ſchießende Stern iſt eine zum Beſuch reiſende Seele. Dies große Geſtirn (der Baͤr) iſt ein Rennthier: jene Siebenſterne ſind Hunde, die einen Baͤren hetzen: jene (Orions Guͤrtel) ſind Verwilderte, die vom Seehundfange nicht nach Hauſe finden konnten und unter die Sterne kamen. Mond und Sonne ſind zwei leibliche Geſchwiſter. Malina, die Schweſter, wurde von ihrem Bruder im Finſtern verfolgt: ſie wollte ſich mit der Flucht retten, fuhr in die Hoͤhe und ward zur Sonne. Anninga fuhr ihr nach und ward zum Monde: noch immer laͤuft der Mond um die jungfraͤuliche Sonne um- her, in Hoffnung ſie zu haſchen, aber vergebens. Muͤde und abgezehrt (beim letzten Viertheil) faͤhrt er auf den Seehund- fang, bleibt einige Tage aus und kommt ſo fett wieder, wie wir ihn im Vollmond ſehen. Er freut ſich wenn Weiber ſter- ben und die Sonne hat ihre Luſt an der Maͤnner Tode.„ —
Niemand wuͤrde mirs danken, wenn ich fortfuͤhre, die Phantaſieen mehrerer Voͤlker alſo zu zeichnen. Faͤnde ſich jemand, der dies Reich der Einbildungen, den wahren Lim- bus der Eitelkeit, der unſre Erde umgiebt, zu durchreiſen Luſt
haͤtte:
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Antw. Sie ſind alle ehedem Groͤnlaͤnder oder Thiere
geweſen, die durch beſondre Zufaͤlle dahinauf gefahren ſind
und nach Verſchiedenheit ihrer Speiſe blaß oder roth glaͤnzen.
Jene die ſich begegnen, ſind zwei Weiber, die einander beſu-
chen: dieſer ſchießende Stern iſt eine zum Beſuch reiſende
Seele. Dies große Geſtirn (der Baͤr) iſt ein Rennthier:
jene Siebenſterne ſind Hunde, die einen Baͤren hetzen: jene
(Orions Guͤrtel) ſind Verwilderte, die vom Seehundfange
nicht nach Hauſe finden konnten und unter die Sterne kamen.
Mond und Sonne ſind zwei leibliche Geſchwiſter. Malina,
die Schweſter, wurde von ihrem Bruder im Finſtern verfolgt:
ſie wollte ſich mit der Flucht retten, fuhr in die Hoͤhe und ward
zur Sonne. Anninga fuhr ihr nach und ward zum Monde:
noch immer laͤuft der Mond um die jungfraͤuliche Sonne um-
her, in Hoffnung ſie zu haſchen, aber vergebens. Muͤde und
abgezehrt (beim letzten Viertheil) faͤhrt er auf den Seehund-
fang, bleibt einige Tage aus und kommt ſo fett wieder, wie
wir ihn im Vollmond ſehen. Er freut ſich wenn Weiber ſter-
ben und die Sonne hat ihre Luſt an der Maͤnner Tode.„ —
Niemand wuͤrde mirs danken, wenn ich fortfuͤhre, die
Phantaſieen mehrerer Voͤlker alſo zu zeichnen. Faͤnde ſich
jemand, der dies Reich der Einbildungen, den wahren Lim-
bus der Eitelkeit, der unſre Erde umgiebt, zu durchreiſen Luſt
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/159>, abgerufen am 22.12.2024.
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