Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Mit Wissenschaften und Künsten ziehet sich also eine neue
Tradition durchs Menschengeschlecht, an deren Kette nur we-
nigen Glücklichen etwas Neues anzureihen vergönnt war; die
andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen
mechanisch die Kette weiter. Wie dieser Zucker und Mohren-
trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge-
langte und ich kein andres Verdienst habe, als ihn zu trinken:
so ist unsre Vernunft und Lebensweise, unsre Gelehrsamkeit und
Kunsterziehung, unsre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu-
sammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un-
ser Verdienst aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir
uns von Jugend auf baden oder ersäufen.

Eitel ist also der Ruhm so manches Europäischen Pöbels,
wenn er in dem, was Aufklärung, Kunst und Wissenschaft
heißt, sich über alle drei Welttheile setzt, und wie jener Wahn-
sinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus
keiner Ursache für die Seinen hält, als weil er im Zusammen-
fluß dieser Erfindungen und Traditionen gebohren worden.
Armseliger, erfandest du etwas von diesen Künsten? Denkst
du etwas bei allen deinen eingesognen Traditionen? Daß du
jene brauchen gelernt hast, ist die Arbeit einer Maschine: daß
du den Saft der Wissenschaft in dich ziehest, ist das Verdienst
des Schwammes, der nun eben auf dieser feuchten Stelle ge-

wach-

Mit Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ziehet ſich alſo eine neue
Tradition durchs Menſchengeſchlecht, an deren Kette nur we-
nigen Gluͤcklichen etwas Neues anzureihen vergoͤnnt war; die
andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen
mechaniſch die Kette weiter. Wie dieſer Zucker und Mohren-
trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge-
langte und ich kein andres Verdienſt habe, als ihn zu trinken:
ſo iſt unſre Vernunft und Lebensweiſe, unſre Gelehrſamkeit und
Kunſterziehung, unſre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu-
ſammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un-
ſer Verdienſt aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir
uns von Jugend auf baden oder erſaͤufen.

Eitel iſt alſo der Ruhm ſo manches Europaͤiſchen Poͤbels,
wenn er in dem, was Aufklaͤrung, Kunſt und Wiſſenſchaft
heißt, ſich uͤber alle drei Welttheile ſetzt, und wie jener Wahn-
ſinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus
keiner Urſache fuͤr die Seinen haͤlt, als weil er im Zuſammen-
fluß dieſer Erfindungen und Traditionen gebohren worden.
Armſeliger, erfandeſt du etwas von dieſen Kuͤnſten? Denkſt
du etwas bei allen deinen eingeſognen Traditionen? Daß du
jene brauchen gelernt haſt, iſt die Arbeit einer Maſchine: daß
du den Saft der Wiſſenſchaft in dich zieheſt, iſt das Verdienſt
des Schwammes, der nun eben auf dieſer feuchten Stelle ge-

wach-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0256" n="244"/>
          <p>Mit Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften und Ku&#x0364;n&#x017F;ten ziehet &#x017F;ich al&#x017F;o eine neue<lb/>
Tradition durchs Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht, an deren Kette nur we-<lb/>
nigen Glu&#x0364;cklichen etwas Neues anzureihen vergo&#x0364;nnt war; die<lb/>
andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen<lb/>
mechani&#x017F;ch die Kette weiter. Wie die&#x017F;er Zucker und Mohren-<lb/>
trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge-<lb/>
langte und ich kein andres Verdien&#x017F;t habe, als ihn zu trinken:<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t un&#x017F;re Vernunft und Lebenswei&#x017F;e, un&#x017F;re Gelehr&#x017F;amkeit und<lb/>
Kun&#x017F;terziehung, un&#x017F;re Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu-<lb/>
&#x017F;ammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un-<lb/>
&#x017F;er Verdien&#x017F;t aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir<lb/>
uns von Jugend auf baden oder er&#x017F;a&#x0364;ufen.</p><lb/>
          <p>Eitel i&#x017F;t al&#x017F;o der Ruhm &#x017F;o manches Europa&#x0364;i&#x017F;chen Po&#x0364;bels,<lb/>
wenn er in dem, was Aufkla&#x0364;rung, Kun&#x017F;t und Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
heißt, &#x017F;ich u&#x0364;ber alle drei Welttheile &#x017F;etzt, und wie jener Wahn-<lb/>
&#x017F;innige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus<lb/>
keiner Ur&#x017F;ache fu&#x0364;r die Seinen ha&#x0364;lt, als weil er im Zu&#x017F;ammen-<lb/>
fluß die&#x017F;er Erfindungen und Traditionen gebohren worden.<lb/>
Arm&#x017F;eliger, erfande&#x017F;t du etwas von die&#x017F;en Ku&#x0364;n&#x017F;ten? Denk&#x017F;t<lb/>
du etwas bei allen deinen einge&#x017F;ognen Traditionen? Daß du<lb/>
jene brauchen gelernt ha&#x017F;t, i&#x017F;t die Arbeit einer Ma&#x017F;chine: daß<lb/>
du den Saft der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft in dich ziehe&#x017F;t, i&#x017F;t das Verdien&#x017F;t<lb/>
des Schwammes, der nun eben auf die&#x017F;er feuchten Stelle ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wach-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[244/0256] Mit Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ziehet ſich alſo eine neue Tradition durchs Menſchengeſchlecht, an deren Kette nur we- nigen Gluͤcklichen etwas Neues anzureihen vergoͤnnt war; die andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen mechaniſch die Kette weiter. Wie dieſer Zucker und Mohren- trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge- langte und ich kein andres Verdienſt habe, als ihn zu trinken: ſo iſt unſre Vernunft und Lebensweiſe, unſre Gelehrſamkeit und Kunſterziehung, unſre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu- ſammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un- ſer Verdienſt aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder erſaͤufen. Eitel iſt alſo der Ruhm ſo manches Europaͤiſchen Poͤbels, wenn er in dem, was Aufklaͤrung, Kunſt und Wiſſenſchaft heißt, ſich uͤber alle drei Welttheile ſetzt, und wie jener Wahn- ſinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus keiner Urſache fuͤr die Seinen haͤlt, als weil er im Zuſammen- fluß dieſer Erfindungen und Traditionen gebohren worden. Armſeliger, erfandeſt du etwas von dieſen Kuͤnſten? Denkſt du etwas bei allen deinen eingeſognen Traditionen? Daß du jene brauchen gelernt haſt, iſt die Arbeit einer Maſchine: daß du den Saft der Wiſſenſchaft in dich zieheſt, iſt das Verdienſt des Schwammes, der nun eben auf dieſer feuchten Stelle ge- wach-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/256
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/256>, abgerufen am 22.12.2024.