Mit Wissenschaften und Künsten ziehet sich also eine neue Tradition durchs Menschengeschlecht, an deren Kette nur we- nigen Glücklichen etwas Neues anzureihen vergönnt war; die andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen mechanisch die Kette weiter. Wie dieser Zucker und Mohren- trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge- langte und ich kein andres Verdienst habe, als ihn zu trinken: so ist unsre Vernunft und Lebensweise, unsre Gelehrsamkeit und Kunsterziehung, unsre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu- sammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un- ser Verdienst aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder ersäufen.
Eitel ist also der Ruhm so manches Europäischen Pöbels, wenn er in dem, was Aufklärung, Kunst und Wissenschaft heißt, sich über alle drei Welttheile setzt, und wie jener Wahn- sinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus keiner Ursache für die Seinen hält, als weil er im Zusammen- fluß dieser Erfindungen und Traditionen gebohren worden. Armseliger, erfandest du etwas von diesen Künsten? Denkst du etwas bei allen deinen eingesognen Traditionen? Daß du jene brauchen gelernt hast, ist die Arbeit einer Maschine: daß du den Saft der Wissenschaft in dich ziehest, ist das Verdienst des Schwammes, der nun eben auf dieser feuchten Stelle ge-
wach-
Mit Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ziehet ſich alſo eine neue Tradition durchs Menſchengeſchlecht, an deren Kette nur we- nigen Gluͤcklichen etwas Neues anzureihen vergoͤnnt war; die andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen mechaniſch die Kette weiter. Wie dieſer Zucker und Mohren- trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge- langte und ich kein andres Verdienſt habe, als ihn zu trinken: ſo iſt unſre Vernunft und Lebensweiſe, unſre Gelehrſamkeit und Kunſterziehung, unſre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu- ſammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un- ſer Verdienſt aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder erſaͤufen.
Eitel iſt alſo der Ruhm ſo manches Europaͤiſchen Poͤbels, wenn er in dem, was Aufklaͤrung, Kunſt und Wiſſenſchaft heißt, ſich uͤber alle drei Welttheile ſetzt, und wie jener Wahn- ſinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus keiner Urſache fuͤr die Seinen haͤlt, als weil er im Zuſammen- fluß dieſer Erfindungen und Traditionen gebohren worden. Armſeliger, erfandeſt du etwas von dieſen Kuͤnſten? Denkſt du etwas bei allen deinen eingeſognen Traditionen? Daß du jene brauchen gelernt haſt, iſt die Arbeit einer Maſchine: daß du den Saft der Wiſſenſchaft in dich zieheſt, iſt das Verdienſt des Schwammes, der nun eben auf dieſer feuchten Stelle ge-
wach-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0256"n="244"/><p>Mit Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ziehet ſich alſo eine neue<lb/>
Tradition durchs Menſchengeſchlecht, an deren Kette nur we-<lb/>
nigen Gluͤcklichen etwas Neues anzureihen vergoͤnnt war; die<lb/>
andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen<lb/>
mechaniſch die Kette weiter. Wie dieſer Zucker und Mohren-<lb/>
trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge-<lb/>
langte und ich kein andres Verdienſt habe, als ihn zu trinken:<lb/>ſo iſt unſre Vernunft und Lebensweiſe, unſre Gelehrſamkeit und<lb/>
Kunſterziehung, unſre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu-<lb/>ſammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un-<lb/>ſer Verdienſt aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir<lb/>
uns von Jugend auf baden oder erſaͤufen.</p><lb/><p>Eitel iſt alſo der Ruhm ſo manches Europaͤiſchen Poͤbels,<lb/>
wenn er in dem, was Aufklaͤrung, Kunſt und Wiſſenſchaft<lb/>
heißt, ſich uͤber alle drei Welttheile ſetzt, und wie jener Wahn-<lb/>ſinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus<lb/>
keiner Urſache fuͤr die Seinen haͤlt, als weil er im Zuſammen-<lb/>
fluß dieſer Erfindungen und Traditionen gebohren worden.<lb/>
Armſeliger, erfandeſt du etwas von dieſen Kuͤnſten? Denkſt<lb/>
du etwas bei allen deinen eingeſognen Traditionen? Daß du<lb/>
jene brauchen gelernt haſt, iſt die Arbeit einer Maſchine: daß<lb/>
du den Saft der Wiſſenſchaft in dich zieheſt, iſt das Verdienſt<lb/>
des Schwammes, der nun eben auf dieſer feuchten Stelle ge-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">wach-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[244/0256]
Mit Wiſſenſchaften und Kuͤnſten ziehet ſich alſo eine neue
Tradition durchs Menſchengeſchlecht, an deren Kette nur we-
nigen Gluͤcklichen etwas Neues anzureihen vergoͤnnt war; die
andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen
mechaniſch die Kette weiter. Wie dieſer Zucker und Mohren-
trank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir ge-
langte und ich kein andres Verdienſt habe, als ihn zu trinken:
ſo iſt unſre Vernunft und Lebensweiſe, unſre Gelehrſamkeit und
Kunſterziehung, unſre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zu-
ſammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn un-
ſer Verdienſt aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir
uns von Jugend auf baden oder erſaͤufen.
Eitel iſt alſo der Ruhm ſo manches Europaͤiſchen Poͤbels,
wenn er in dem, was Aufklaͤrung, Kunſt und Wiſſenſchaft
heißt, ſich uͤber alle drei Welttheile ſetzt, und wie jener Wahn-
ſinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europa's aus
keiner Urſache fuͤr die Seinen haͤlt, als weil er im Zuſammen-
fluß dieſer Erfindungen und Traditionen gebohren worden.
Armſeliger, erfandeſt du etwas von dieſen Kuͤnſten? Denkſt
du etwas bei allen deinen eingeſognen Traditionen? Daß du
jene brauchen gelernt haſt, iſt die Arbeit einer Maſchine: daß
du den Saft der Wiſſenſchaft in dich zieheſt, iſt das Verdienſt
des Schwammes, der nun eben auf dieſer feuchten Stelle ge-
wach-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/256>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.