Jch kanns, selbst der Geschichte nach, nicht glauben. Wären die Menschen wie Thiere auf die Erde gestreuet, sich die innere Gestalt der Humanität erst selbst zu erfinden: so müßten wir noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion und Sitten kennen: denn wie der Mensch gewesen ist, ist er noch auf der Erde. Nun sagt uns aber keine Geschichte, keine Erfahrung, daß irgendwo menschliche Orang-Outangs leben; und die Mährchen, die der späte Diodor oder der noch spätere Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenschlichen Menschen erzählen, zeigen sich entweder selbst in ihrem fabel- haften Grunde oder verdienen wenigstens auf das Zeugniß dieser Schriftsteller noch keinen Glauben. So sind auch ge- wiß die Sagen übertrieben, die die Dichter, um das Verdienst ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Völ- kern der Vorwelt geben: denn schon die Zeit, in der diese Dich- ter lebten und der Zweck ihrer Beschreibung schließt sie von der Zahl historischer Zeugen aus. Wilder als der Neusee- oder der Feuerländer, ist auch nach der Analogie des Klima zu rechnen, kein Europäisches, geschweige ein Griechisches Volk gewesen; und jene inhumanen Nationen haben Humanität, Vernunft und Sprache. Kein Menschenfresser frißt seine Brüder und Kinder; der unmenschliche Gebrauch ist ihnen ein grausames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und zum wechselseitigen Schrecken der Feinde. Er ist also nichts
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Jdeen,II.Th. M m
Jch kanns, ſelbſt der Geſchichte nach, nicht glauben. Waͤren die Menſchen wie Thiere auf die Erde geſtreuet, ſich die innere Geſtalt der Humanitaͤt erſt ſelbſt zu erfinden: ſo muͤßten wir noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion und Sitten kennen: denn wie der Menſch geweſen iſt, iſt er noch auf der Erde. Nun ſagt uns aber keine Geſchichte, keine Erfahrung, daß irgendwo menſchliche Orang-Outangs leben; und die Maͤhrchen, die der ſpaͤte Diodor oder der noch ſpaͤtere Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenſchlichen Menſchen erzaͤhlen, zeigen ſich entweder ſelbſt in ihrem fabel- haften Grunde oder verdienen wenigſtens auf das Zeugniß dieſer Schriftſteller noch keinen Glauben. So ſind auch ge- wiß die Sagen uͤbertrieben, die die Dichter, um das Verdienſt ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Voͤl- kern der Vorwelt geben: denn ſchon die Zeit, in der dieſe Dich- ter lebten und der Zweck ihrer Beſchreibung ſchließt ſie von der Zahl hiſtoriſcher Zeugen aus. Wilder als der Neuſee- oder der Feuerlaͤnder, iſt auch nach der Analogie des Klima zu rechnen, kein Europaͤiſches, geſchweige ein Griechiſches Volk geweſen; und jene inhumanen Nationen haben Humanitaͤt, Vernunft und Sprache. Kein Menſchenfreſſer frißt ſeine Bruͤder und Kinder; der unmenſchliche Gebrauch iſt ihnen ein grauſames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und zum wechſelſeitigen Schrecken der Feinde. Er iſt alſo nichts
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Jdeen,II.Th. M m
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Jch kanns, ſelbſt der Geſchichte nach, nicht glauben. Waͤren
die Menſchen wie Thiere auf die Erde geſtreuet, ſich die innere
Geſtalt der Humanitaͤt erſt ſelbſt zu erfinden: ſo muͤßten wir
noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion
und Sitten kennen: denn wie der Menſch geweſen iſt, iſt er
noch auf der Erde. Nun ſagt uns aber keine Geſchichte, keine
Erfahrung, daß irgendwo menſchliche Orang-Outangs leben;
und die Maͤhrchen, die der ſpaͤte Diodor oder der noch ſpaͤtere
Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenſchlichen
Menſchen erzaͤhlen, zeigen ſich entweder ſelbſt in ihrem fabel-
haften Grunde oder verdienen wenigſtens auf das Zeugniß
dieſer Schriftſteller noch keinen Glauben. So ſind auch ge-
wiß die Sagen uͤbertrieben, die die Dichter, um das Verdienſt
ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Voͤl-
kern der Vorwelt geben: denn ſchon die Zeit, in der dieſe Dich-
ter lebten und der Zweck ihrer Beſchreibung ſchließt ſie von
der Zahl hiſtoriſcher Zeugen aus. Wilder als der Neuſee-
oder der Feuerlaͤnder, iſt auch nach der Analogie des Klima
zu rechnen, kein Europaͤiſches, geſchweige ein Griechiſches Volk
geweſen; und jene inhumanen Nationen haben Humanitaͤt,
Vernunft und Sprache. Kein Menſchenfreſſer frißt ſeine
Bruͤder und Kinder; der unmenſchliche Gebrauch iſt ihnen
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/285>, abgerufen am 22.12.2024.
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