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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Jch kanns, selbst der Geschichte nach, nicht glauben. Wären
die Menschen wie Thiere auf die Erde gestreuet, sich die innere
Gestalt der Humanität erst selbst zu erfinden: so müßten wir
noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion
und Sitten kennen: denn wie der Mensch gewesen ist, ist er
noch auf der Erde. Nun sagt uns aber keine Geschichte, keine
Erfahrung, daß irgendwo menschliche Orang-Outangs leben;
und die Mährchen, die der späte Diodor oder der noch spätere
Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenschlichen
Menschen erzählen, zeigen sich entweder selbst in ihrem fabel-
haften Grunde oder verdienen wenigstens auf das Zeugniß
dieser Schriftsteller noch keinen Glauben. So sind auch ge-
wiß die Sagen übertrieben, die die Dichter, um das Verdienst
ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Völ-
kern der Vorwelt geben: denn schon die Zeit, in der diese Dich-
ter lebten und der Zweck ihrer Beschreibung schließt sie von
der Zahl historischer Zeugen aus. Wilder als der Neusee-
oder der Feuerländer, ist auch nach der Analogie des Klima
zu rechnen, kein Europäisches, geschweige ein Griechisches Volk
gewesen; und jene inhumanen Nationen haben Humanität,
Vernunft und Sprache. Kein Menschenfresser frißt seine
Brüder und Kinder; der unmenschliche Gebrauch ist ihnen
ein grausames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und
zum wechselseitigen Schrecken der Feinde. Er ist also nichts

mehr
Jdeen, II. Th. M m

Jch kanns, ſelbſt der Geſchichte nach, nicht glauben. Waͤren
die Menſchen wie Thiere auf die Erde geſtreuet, ſich die innere
Geſtalt der Humanitaͤt erſt ſelbſt zu erfinden: ſo muͤßten wir
noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion
und Sitten kennen: denn wie der Menſch geweſen iſt, iſt er
noch auf der Erde. Nun ſagt uns aber keine Geſchichte, keine
Erfahrung, daß irgendwo menſchliche Orang-Outangs leben;
und die Maͤhrchen, die der ſpaͤte Diodor oder der noch ſpaͤtere
Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenſchlichen
Menſchen erzaͤhlen, zeigen ſich entweder ſelbſt in ihrem fabel-
haften Grunde oder verdienen wenigſtens auf das Zeugniß
dieſer Schriftſteller noch keinen Glauben. So ſind auch ge-
wiß die Sagen uͤbertrieben, die die Dichter, um das Verdienſt
ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Voͤl-
kern der Vorwelt geben: denn ſchon die Zeit, in der dieſe Dich-
ter lebten und der Zweck ihrer Beſchreibung ſchließt ſie von
der Zahl hiſtoriſcher Zeugen aus. Wilder als der Neuſee-
oder der Feuerlaͤnder, iſt auch nach der Analogie des Klima
zu rechnen, kein Europaͤiſches, geſchweige ein Griechiſches Volk
geweſen; und jene inhumanen Nationen haben Humanitaͤt,
Vernunft und Sprache. Kein Menſchenfreſſer frißt ſeine
Bruͤder und Kinder; der unmenſchliche Gebrauch iſt ihnen
ein grauſames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und
zum wechſelſeitigen Schrecken der Feinde. Er iſt alſo nichts

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[273/0285] Jch kanns, ſelbſt der Geſchichte nach, nicht glauben. Waͤren die Menſchen wie Thiere auf die Erde geſtreuet, ſich die innere Geſtalt der Humanitaͤt erſt ſelbſt zu erfinden: ſo muͤßten wir noch Nationen ohne Sprache, ohne Vernunft, ohne Religion und Sitten kennen: denn wie der Menſch geweſen iſt, iſt er noch auf der Erde. Nun ſagt uns aber keine Geſchichte, keine Erfahrung, daß irgendwo menſchliche Orang-Outangs leben; und die Maͤhrchen, die der ſpaͤte Diodor oder der noch ſpaͤtere Plinius von den Unempfindlichen und andern unmenſchlichen Menſchen erzaͤhlen, zeigen ſich entweder ſelbſt in ihrem fabel- haften Grunde oder verdienen wenigſtens auf das Zeugniß dieſer Schriftſteller noch keinen Glauben. So ſind auch ge- wiß die Sagen uͤbertrieben, die die Dichter, um das Verdienſt ihrer Orpheus und Kadmus zu erheben, von den rohen Voͤl- kern der Vorwelt geben: denn ſchon die Zeit, in der dieſe Dich- ter lebten und der Zweck ihrer Beſchreibung ſchließt ſie von der Zahl hiſtoriſcher Zeugen aus. Wilder als der Neuſee- oder der Feuerlaͤnder, iſt auch nach der Analogie des Klima zu rechnen, kein Europaͤiſches, geſchweige ein Griechiſches Volk geweſen; und jene inhumanen Nationen haben Humanitaͤt, Vernunft und Sprache. Kein Menſchenfreſſer frißt ſeine Bruͤder und Kinder; der unmenſchliche Gebrauch iſt ihnen ein grauſames Kriegsrecht zur Erhaltung der Tapferkeit und zum wechſelſeitigen Schrecken der Feinde. Er iſt alſo nichts mehr Jdeen, II. Th. M m

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/285>, abgerufen am 22.12.2024.