Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen Meer, je näher Asien, desto mehr sind Künste, Handwerke,
Pracht und der Gemahl der Pracht, der königliche Despotis-
mus in alter Uebung; je weiter von ihm entfernt, auf den ent-
legnen Jnseln, in Amerika oder gar am dürren Rande der Süd-
welt kommt in einem rohern Zustande die einfachere Verfas-
sung des Menschengeschlechts, die Freiheit der Stämme und
Familien wieder; so daß einige Geschichtforscher selbst die bei-
den Monarchieen Amerika's, Mexico und Peru aus der Nach-
barschaft despotischer Reiche Asiens hergeleitet haben. Der
ganze Anblick des Welttheils verräth also, zumal um die Ge-
bürge, die älteste Bewohnung und die Traditionen dieser Völ-
ker mit ihren Zeitrechnungen und Religionen gehen, wie be-
kannt ist, in die Jahrtausende der Vorwelt. Alle Sagen der
Europäer und Afrikaner (bei welchen ich immer Aegypten aus-
nehme) noch mehr der Amerikaner und der westlichen Südsee-
Jnseln sind nichts als verlohrne Bruchstücke junger Mährchen
gegen jene Riesengebäude alter Kosmogonien in Jndien, Ti-
bet, dem alten Chaldäa und selbst dem niedrigern Aegypten:
zerstreute Laute der verirreten Echo gegen die Stimme der Asia-
tischen Urwelt, die sich in die Fabel verlieret.

Wie also, wenn wir dieser Stimme nachgingen und da
die Menschheit kein Mittel der Bildung als die Tradition hat,
diese bis zum Urquell zu verfolgen suchten? Freilich ein trüg-

licher

lichen Meer, je naͤher Aſien, deſto mehr ſind Kuͤnſte, Handwerke,
Pracht und der Gemahl der Pracht, der koͤnigliche Deſpotis-
mus in alter Uebung; je weiter von ihm entfernt, auf den ent-
legnen Jnſeln, in Amerika oder gar am duͤrren Rande der Suͤd-
welt kommt in einem rohern Zuſtande die einfachere Verfaſ-
ſung des Menſchengeſchlechts, die Freiheit der Staͤmme und
Familien wieder; ſo daß einige Geſchichtforſcher ſelbſt die bei-
den Monarchieen Amerika's, Mexico und Peru aus der Nach-
barſchaft deſpotiſcher Reiche Aſiens hergeleitet haben. Der
ganze Anblick des Welttheils verraͤth alſo, zumal um die Ge-
buͤrge, die aͤlteſte Bewohnung und die Traditionen dieſer Voͤl-
ker mit ihren Zeitrechnungen und Religionen gehen, wie be-
kannt iſt, in die Jahrtauſende der Vorwelt. Alle Sagen der
Europaͤer und Afrikaner (bei welchen ich immer Aegypten aus-
nehme) noch mehr der Amerikaner und der weſtlichen Suͤdſee-
Jnſeln ſind nichts als verlohrne Bruchſtuͤcke junger Maͤhrchen
gegen jene Rieſengebaͤude alter Kosmogonien in Jndien, Ti-
bet, dem alten Chaldaͤa und ſelbſt dem niedrigern Aegypten:
zerſtreute Laute der verirreten Echo gegen die Stimme der Aſia-
tiſchen Urwelt, die ſich in die Fabel verlieret.

Wie alſo, wenn wir dieſer Stimme nachgingen und da
die Menſchheit kein Mittel der Bildung als die Tradition hat,
dieſe bis zum Urquell zu verfolgen ſuchten? Freilich ein truͤg-

licher
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0316" n="304"/>
lichen Meer, je na&#x0364;her A&#x017F;ien, de&#x017F;to mehr &#x017F;ind Ku&#x0364;n&#x017F;te, Handwerke,<lb/>
Pracht und der Gemahl der Pracht, der ko&#x0364;nigliche De&#x017F;potis-<lb/>
mus in alter Uebung; je weiter von ihm entfernt, auf den ent-<lb/>
legnen Jn&#x017F;eln, in Amerika oder gar am du&#x0364;rren Rande der Su&#x0364;d-<lb/>
welt kommt in einem rohern Zu&#x017F;tande die einfachere Verfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts, die Freiheit der Sta&#x0364;mme und<lb/>
Familien wieder; &#x017F;o daß einige Ge&#x017F;chichtfor&#x017F;cher &#x017F;elb&#x017F;t die bei-<lb/>
den Monarchieen Amerika's, Mexico und Peru aus der Nach-<lb/>
bar&#x017F;chaft de&#x017F;poti&#x017F;cher Reiche A&#x017F;iens hergeleitet haben. Der<lb/>
ganze Anblick des Welttheils verra&#x0364;th al&#x017F;o, zumal um die Ge-<lb/>
bu&#x0364;rge, die a&#x0364;lte&#x017F;te Bewohnung und die Traditionen die&#x017F;er Vo&#x0364;l-<lb/>
ker mit ihren Zeitrechnungen und Religionen gehen, wie be-<lb/>
kannt i&#x017F;t, in die Jahrtau&#x017F;ende der Vorwelt. Alle Sagen der<lb/>
Europa&#x0364;er und Afrikaner (bei welchen ich immer Aegypten aus-<lb/>
nehme) noch mehr der Amerikaner und der we&#x017F;tlichen Su&#x0364;d&#x017F;ee-<lb/>
Jn&#x017F;eln &#x017F;ind nichts als verlohrne Bruch&#x017F;tu&#x0364;cke junger Ma&#x0364;hrchen<lb/>
gegen jene Rie&#x017F;engeba&#x0364;ude alter Kosmogonien in Jndien, Ti-<lb/>
bet, dem alten Chalda&#x0364;a und &#x017F;elb&#x017F;t dem niedrigern Aegypten:<lb/>
zer&#x017F;treute Laute der verirreten Echo gegen die Stimme der A&#x017F;ia-<lb/>
ti&#x017F;chen Urwelt, die &#x017F;ich in die Fabel verlieret.</p><lb/>
          <p>Wie al&#x017F;o, wenn wir die&#x017F;er Stimme nachgingen und da<lb/>
die Men&#x017F;chheit kein Mittel der Bildung als die Tradition hat,<lb/>
die&#x017F;e bis zum Urquell zu verfolgen &#x017F;uchten? Freilich ein tru&#x0364;g-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">licher</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0316] lichen Meer, je naͤher Aſien, deſto mehr ſind Kuͤnſte, Handwerke, Pracht und der Gemahl der Pracht, der koͤnigliche Deſpotis- mus in alter Uebung; je weiter von ihm entfernt, auf den ent- legnen Jnſeln, in Amerika oder gar am duͤrren Rande der Suͤd- welt kommt in einem rohern Zuſtande die einfachere Verfaſ- ſung des Menſchengeſchlechts, die Freiheit der Staͤmme und Familien wieder; ſo daß einige Geſchichtforſcher ſelbſt die bei- den Monarchieen Amerika's, Mexico und Peru aus der Nach- barſchaft deſpotiſcher Reiche Aſiens hergeleitet haben. Der ganze Anblick des Welttheils verraͤth alſo, zumal um die Ge- buͤrge, die aͤlteſte Bewohnung und die Traditionen dieſer Voͤl- ker mit ihren Zeitrechnungen und Religionen gehen, wie be- kannt iſt, in die Jahrtauſende der Vorwelt. Alle Sagen der Europaͤer und Afrikaner (bei welchen ich immer Aegypten aus- nehme) noch mehr der Amerikaner und der weſtlichen Suͤdſee- Jnſeln ſind nichts als verlohrne Bruchſtuͤcke junger Maͤhrchen gegen jene Rieſengebaͤude alter Kosmogonien in Jndien, Ti- bet, dem alten Chaldaͤa und ſelbſt dem niedrigern Aegypten: zerſtreute Laute der verirreten Echo gegen die Stimme der Aſia- tiſchen Urwelt, die ſich in die Fabel verlieret. Wie alſo, wenn wir dieſer Stimme nachgingen und da die Menſchheit kein Mittel der Bildung als die Tradition hat, dieſe bis zum Urquell zu verfolgen ſuchten? Freilich ein truͤg- licher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/316
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/316>, abgerufen am 22.12.2024.