jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzählung. Ein ein- ziger verbotener Baum ist im Paradiese und dieser Baum trägt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Götter- weisheit, nach der dem Menschen gelüstet. Konnte er nach etwas Höherem gelüsten? konnte er auch in seinem Fall mehr geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be- trachtet, die Erzählung mit den Sagen andrer Nationen; sie ist die feinste und schönste, ein symbolisches Bild von dem, was unserm Geschlecht von jeher alles Wohl und Weh brach- te. Unser zweydeutiges Streben nach Erkenntnissen, die uns nicht ziemen, der lüsterne Gebrauch und Misbrauch unsrer Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der Schranken, die einem so schwachen Geschöpf, das sich selbst zu bestimmen erst lernen soll, durch moralische Gebote nothwen- dig gesetzt werden mußten; dies ist das feurige Rad, unter dem wir ächzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unsres Lebens ausmacht. Der alte Philosoph der Menschengeschichte wuste dies wie wirs wissen und zeigt uns den Knoten davon in einer Kindergeschichte, die fast alle Enden der Menschheit zusammenknüpfet. Auch der Jndier erzählt von Riesen, die nach der Speise der Unsterblichkeit gruben: auch der Tibeta- ner spricht von seinen durch eine Missethat herabgesunkenen Lahen; nichts aber, dünkt mich, reicht an die reine Tiefe, an die kindliche Einfalt dieser Sage, die nur so viel Wunderba-
res
Jdeen,II.Th. U u
jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzaͤhlung. Ein ein- ziger verbotener Baum iſt im Paradieſe und dieſer Baum traͤgt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Goͤtter- weisheit, nach der dem Menſchen geluͤſtet. Konnte er nach etwas Hoͤherem geluͤſten? konnte er auch in ſeinem Fall mehr geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be- trachtet, die Erzaͤhlung mit den Sagen andrer Nationen; ſie iſt die feinſte und ſchoͤnſte, ein ſymboliſches Bild von dem, was unſerm Geſchlecht von jeher alles Wohl und Weh brach- te. Unſer zweydeutiges Streben nach Erkenntniſſen, die uns nicht ziemen, der luͤſterne Gebrauch und Misbrauch unſrer Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der Schranken, die einem ſo ſchwachen Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt zu beſtimmen erſt lernen ſoll, durch moraliſche Gebote nothwen- dig geſetzt werden mußten; dies iſt das feurige Rad, unter dem wir aͤchzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unſres Lebens ausmacht. Der alte Philoſoph der Menſchengeſchichte wuſte dies wie wirs wiſſen und zeigt uns den Knoten davon in einer Kindergeſchichte, die faſt alle Enden der Menſchheit zuſammenknuͤpfet. Auch der Jndier erzaͤhlt von Rieſen, die nach der Speiſe der Unſterblichkeit gruben: auch der Tibeta- ner ſpricht von ſeinen durch eine Miſſethat herabgeſunkenen Lahen; nichts aber, duͤnkt mich, reicht an die reine Tiefe, an die kindliche Einfalt dieſer Sage, die nur ſo viel Wunderba-
res
Jdeen,II.Th. U u
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0349"n="337"/>
jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzaͤhlung. Ein ein-<lb/>
ziger verbotener Baum iſt im Paradieſe und dieſer Baum<lb/>
traͤgt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Goͤtter-<lb/>
weisheit, nach der dem Menſchen geluͤſtet. Konnte er nach<lb/>
etwas Hoͤherem geluͤſten? konnte er auch in ſeinem Fall mehr<lb/>
geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be-<lb/>
trachtet, die Erzaͤhlung mit den Sagen andrer Nationen; ſie<lb/>
iſt die feinſte und ſchoͤnſte, ein ſymboliſches Bild von dem,<lb/>
was unſerm Geſchlecht von jeher alles Wohl und Weh brach-<lb/>
te. Unſer zweydeutiges Streben nach Erkenntniſſen, die uns<lb/>
nicht ziemen, der luͤſterne Gebrauch und Misbrauch unſrer<lb/>
Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der<lb/>
Schranken, die einem ſo ſchwachen Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt zu<lb/>
beſtimmen erſt lernen ſoll, durch moraliſche Gebote nothwen-<lb/>
dig geſetzt werden mußten; dies iſt das feurige Rad, unter<lb/>
dem wir aͤchzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unſres<lb/>
Lebens ausmacht. Der alte Philoſoph der Menſchengeſchichte<lb/>
wuſte dies wie wirs wiſſen und zeigt uns den Knoten davon<lb/>
in einer Kindergeſchichte, die faſt alle Enden der Menſchheit<lb/>
zuſammenknuͤpfet. Auch der Jndier erzaͤhlt von Rieſen, die<lb/>
nach der Speiſe der Unſterblichkeit gruben: auch der Tibeta-<lb/>
ner ſpricht von ſeinen durch eine Miſſethat herabgeſunkenen<lb/>
Lahen; nichts aber, duͤnkt mich, reicht an die reine Tiefe, an<lb/>
die kindliche Einfalt dieſer Sage, die nur ſo viel Wunderba-<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Jdeen,</hi><hirendition="#aq">II.</hi><hirendition="#fr">Th.</hi> U u</fw><fwplace="bottom"type="catch">res</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[337/0349]
jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzaͤhlung. Ein ein-
ziger verbotener Baum iſt im Paradieſe und dieſer Baum
traͤgt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Goͤtter-
weisheit, nach der dem Menſchen geluͤſtet. Konnte er nach
etwas Hoͤherem geluͤſten? konnte er auch in ſeinem Fall mehr
geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be-
trachtet, die Erzaͤhlung mit den Sagen andrer Nationen; ſie
iſt die feinſte und ſchoͤnſte, ein ſymboliſches Bild von dem,
was unſerm Geſchlecht von jeher alles Wohl und Weh brach-
te. Unſer zweydeutiges Streben nach Erkenntniſſen, die uns
nicht ziemen, der luͤſterne Gebrauch und Misbrauch unſrer
Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der
Schranken, die einem ſo ſchwachen Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt zu
beſtimmen erſt lernen ſoll, durch moraliſche Gebote nothwen-
dig geſetzt werden mußten; dies iſt das feurige Rad, unter
dem wir aͤchzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unſres
Lebens ausmacht. Der alte Philoſoph der Menſchengeſchichte
wuſte dies wie wirs wiſſen und zeigt uns den Knoten davon
in einer Kindergeſchichte, die faſt alle Enden der Menſchheit
zuſammenknuͤpfet. Auch der Jndier erzaͤhlt von Rieſen, die
nach der Speiſe der Unſterblichkeit gruben: auch der Tibeta-
ner ſpricht von ſeinen durch eine Miſſethat herabgeſunkenen
Lahen; nichts aber, duͤnkt mich, reicht an die reine Tiefe, an
die kindliche Einfalt dieſer Sage, die nur ſo viel Wunderba-
res
Jdeen, II. Th. U u
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/349>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.