Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Europa, so weit sie dem Sammler der Tradition bekannt wa-
rena). Er leitet sie ab, so gut er kann und sucht sie mit sei-
ner Geschlechtstafel zu binden; nicht aber giebt er uns damit
eine allgemeine Landcharte der Welt oder eine Genealogie aller
Völker. Die vielfache Mühe, die man sich gegeben hat,
sämmtliche Nationen der Erde nach diesem Stammbaum zu
Abkömmlingen der Ebräer und zu Halbbrüdern der Juden zu
machen, widerspricht nicht nur der Zeitrechnung und der ge-
sammten Völkergeschichte, sondern dem Standpunkt dieser Er-
zählung selbst, die sie durch dergleichen Uebertreibungen fast
ganz um ihren Glauben gebracht hat. Allenthalben am Ur-
gebürge der Welt bilden sich nach der Ueberschwemmung Völ-
ker, Sprachen und Reiche, ohne auf die Gesandschaft einer
Familie aus Chaldäa zu warten, und im östlichen Asien, wo

der
a) Japhet ist seinem Namen und seinem Segen nach ein Weitver-
breiteter
, dergleichen die Völker Nordwärts dem Gebürge, ihrer
Lebensweise und zum Theil selbst ihren Namen nach, waren.
Sem faßt Stämme in sich, bei denen der Name d. i. die alte
Tradition der Religion, Schrift und Cultur vorzüglich blieb, die
sich daher auch gegen andre, insonderheit die Chamiten den Vor-
zug cultivirter Völker anmaßten. Cham hat von der Hitze den
Namen und gehört in den hitzigen Erdstrich. Mit den drey Söh-
nen Noah lesen wir also nichts als die drey Welttheile, Europa,
Asien, Afrika, sofern sie im Gesichtskreis dieser Tradition lagen.

Europa, ſo weit ſie dem Sammler der Tradition bekannt wa-
rena). Er leitet ſie ab, ſo gut er kann und ſucht ſie mit ſei-
ner Geſchlechtstafel zu binden; nicht aber giebt er uns damit
eine allgemeine Landcharte der Welt oder eine Genealogie aller
Voͤlker. Die vielfache Muͤhe, die man ſich gegeben hat,
ſaͤmmtliche Nationen der Erde nach dieſem Stammbaum zu
Abkoͤmmlingen der Ebraͤer und zu Halbbruͤdern der Juden zu
machen, widerſpricht nicht nur der Zeitrechnung und der ge-
ſammten Voͤlkergeſchichte, ſondern dem Standpunkt dieſer Er-
zaͤhlung ſelbſt, die ſie durch dergleichen Uebertreibungen faſt
ganz um ihren Glauben gebracht hat. Allenthalben am Ur-
gebuͤrge der Welt bilden ſich nach der Ueberſchwemmung Voͤl-
ker, Sprachen und Reiche, ohne auf die Geſandſchaft einer
Familie aus Chaldaͤa zu warten, und im oͤſtlichen Aſien, wo

der
a) Japhet iſt ſeinem Namen und ſeinem Segen nach ein Weitver-
breiteter
, dergleichen die Voͤlker Nordwaͤrts dem Gebuͤrge, ihrer
Lebensweiſe und zum Theil ſelbſt ihren Namen nach, waren.
Sem faßt Staͤmme in ſich, bei denen der Name d. i. die alte
Tradition der Religion, Schrift und Cultur vorzuͤglich blieb, die
ſich daher auch gegen andre, inſonderheit die Chamiten den Vor-
zug cultivirter Voͤlker anmaßten. Cham hat von der Hitze den
Namen und gehoͤrt in den hitzigen Erdſtrich. Mit den drey Soͤh-
nen Noah leſen wir alſo nichts als die drey Welttheile, Europa,
Aſien, Afrika, ſofern ſie im Geſichtskreis dieſer Tradition lagen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0355" n="343"/>
Europa, &#x017F;o weit &#x017F;ie dem Sammler der Tradition bekannt wa-<lb/>
ren<note place="foot" n="a)"><hi rendition="#fr">Japhet</hi> i&#x017F;t &#x017F;einem Namen und &#x017F;einem Segen nach ein <hi rendition="#fr">Weitver-<lb/>
breiteter</hi>, dergleichen die Vo&#x0364;lker Nordwa&#x0364;rts dem Gebu&#x0364;rge, ihrer<lb/>
Lebenswei&#x017F;e und zum Theil &#x017F;elb&#x017F;t ihren Namen nach, waren.<lb/><hi rendition="#fr">Sem</hi> faßt Sta&#x0364;mme in &#x017F;ich, bei denen der Name d. i. die alte<lb/>
Tradition der Religion, Schrift und Cultur vorzu&#x0364;glich blieb, die<lb/>
&#x017F;ich daher auch gegen andre, in&#x017F;onderheit die Chamiten den Vor-<lb/>
zug cultivirter Vo&#x0364;lker anmaßten. <hi rendition="#fr">Cham</hi> hat von der Hitze den<lb/>
Namen und geho&#x0364;rt in den hitzigen Erd&#x017F;trich. Mit den drey So&#x0364;h-<lb/>
nen Noah le&#x017F;en wir al&#x017F;o nichts als die drey Welttheile, Europa,<lb/>
A&#x017F;ien, Afrika, &#x017F;ofern &#x017F;ie im Ge&#x017F;ichtskreis die&#x017F;er Tradition lagen.</note>. Er leitet &#x017F;ie ab, &#x017F;o gut er kann und &#x017F;ucht &#x017F;ie mit &#x017F;ei-<lb/>
ner Ge&#x017F;chlechtstafel zu binden; nicht aber giebt er uns damit<lb/>
eine allgemeine Landcharte der Welt oder eine Genealogie aller<lb/>
Vo&#x0364;lker. Die vielfache Mu&#x0364;he, die man &#x017F;ich gegeben hat,<lb/>
&#x017F;a&#x0364;mmtliche Nationen der Erde nach die&#x017F;em Stammbaum zu<lb/>
Abko&#x0364;mmlingen der Ebra&#x0364;er und zu Halbbru&#x0364;dern der Juden zu<lb/>
machen, wider&#x017F;pricht nicht nur der Zeitrechnung und der ge-<lb/>
&#x017F;ammten Vo&#x0364;lkerge&#x017F;chichte, &#x017F;ondern dem Standpunkt die&#x017F;er Er-<lb/>
za&#x0364;hlung &#x017F;elb&#x017F;t, die &#x017F;ie durch dergleichen Uebertreibungen fa&#x017F;t<lb/>
ganz um ihren Glauben gebracht hat. Allenthalben am Ur-<lb/>
gebu&#x0364;rge der Welt bilden &#x017F;ich nach der Ueber&#x017F;chwemmung Vo&#x0364;l-<lb/>
ker, Sprachen und Reiche, ohne auf die Ge&#x017F;and&#x017F;chaft einer<lb/>
Familie aus Chalda&#x0364;a zu warten, und im o&#x0364;&#x017F;tlichen A&#x017F;ien, wo<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[343/0355] Europa, ſo weit ſie dem Sammler der Tradition bekannt wa- ren a). Er leitet ſie ab, ſo gut er kann und ſucht ſie mit ſei- ner Geſchlechtstafel zu binden; nicht aber giebt er uns damit eine allgemeine Landcharte der Welt oder eine Genealogie aller Voͤlker. Die vielfache Muͤhe, die man ſich gegeben hat, ſaͤmmtliche Nationen der Erde nach dieſem Stammbaum zu Abkoͤmmlingen der Ebraͤer und zu Halbbruͤdern der Juden zu machen, widerſpricht nicht nur der Zeitrechnung und der ge- ſammten Voͤlkergeſchichte, ſondern dem Standpunkt dieſer Er- zaͤhlung ſelbſt, die ſie durch dergleichen Uebertreibungen faſt ganz um ihren Glauben gebracht hat. Allenthalben am Ur- gebuͤrge der Welt bilden ſich nach der Ueberſchwemmung Voͤl- ker, Sprachen und Reiche, ohne auf die Geſandſchaft einer Familie aus Chaldaͤa zu warten, und im oͤſtlichen Aſien, wo der a) Japhet iſt ſeinem Namen und ſeinem Segen nach ein Weitver- breiteter, dergleichen die Voͤlker Nordwaͤrts dem Gebuͤrge, ihrer Lebensweiſe und zum Theil ſelbſt ihren Namen nach, waren. Sem faßt Staͤmme in ſich, bei denen der Name d. i. die alte Tradition der Religion, Schrift und Cultur vorzuͤglich blieb, die ſich daher auch gegen andre, inſonderheit die Chamiten den Vor- zug cultivirter Voͤlker anmaßten. Cham hat von der Hitze den Namen und gehoͤrt in den hitzigen Erdſtrich. Mit den drey Soͤh- nen Noah leſen wir alſo nichts als die drey Welttheile, Europa, Aſien, Afrika, ſofern ſie im Geſichtskreis dieſer Tradition lagen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/355
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/355>, abgerufen am 22.12.2024.