Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

"Der Dichter, der Romanschreiber, der
Schauspieler dringen verstohlner Weise ans
Herz, und treffen es um so gewisser und
stärker, je weniger es den Streich ver-
muthet, je mehr Blöße es folglich giebt.
Die Unglücksfälle, durch die man mich
rührt, sind erdichtet: was thut das? Sie
rühren mich doch. Jede Zeile in dem
Ehrlichen Manne, der sich der
Welt entzogen
, im Dechant von
Killerine
, im Cleveland erregt in
mir ein zärtliches Theilnehmen an den Un-
glücksfällen der Tugend, und kostet mich
Thränen. -- Könnte es eine unseligere
Kunst geben, als die, die mich zum Mit-
schuldigen des Lasterhaften machte? Aber
wo ist auch eine schätzbarere Kunst als die,
die mich unvermerkt für das Schicksal des
rechtschaffenen Mannes einnimmt, die mich
aus der ruhigen und süßen Fassung, in

„Der Dichter, der Romanſchreiber, der
Schauſpieler dringen verſtohlner Weiſe ans
Herz, und treffen es um ſo gewiſſer und
ſtaͤrker, je weniger es den Streich ver-
muthet, je mehr Bloͤße es folglich giebt.
Die Ungluͤcksfaͤlle, durch die man mich
ruͤhrt, ſind erdichtet: was thut das? Sie
ruͤhren mich doch. Jede Zeile in dem
Ehrlichen Manne, der ſich der
Welt entzogen
, im Dechant von
Killerine
, im Cleveland erregt in
mir ein zaͤrtliches Theilnehmen an den Un-
gluͤcksfaͤllen der Tugend, und koſtet mich
Thraͤnen. — Koͤnnte es eine unſeligere
Kunſt geben, als die, die mich zum Mit-
ſchuldigen des Laſterhaften machte? Aber
wo iſt auch eine ſchaͤtzbarere Kunſt als die,
die mich unvermerkt fuͤr das Schickſal des
rechtſchaffenen Mannes einnimmt, die mich
aus der ruhigen und ſuͤßen Faſſung, in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0157" n="148"/>
        <p>&#x201E;Der Dichter, der Roman&#x017F;chreiber, der<lb/>
Schau&#x017F;pieler dringen ver&#x017F;tohlner Wei&#x017F;e ans<lb/>
Herz, und treffen es um &#x017F;o gewi&#x017F;&#x017F;er und<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rker, je weniger es den Streich ver-<lb/>
muthet, je mehr Blo&#x0364;ße es folglich giebt.<lb/>
Die Unglu&#x0364;cksfa&#x0364;lle, durch die man mich<lb/>
ru&#x0364;hrt, &#x017F;ind erdichtet: was thut das? Sie<lb/>
ru&#x0364;hren mich doch. Jede Zeile in dem<lb/><hi rendition="#g">Ehrlichen Manne</hi>, <hi rendition="#g">der &#x017F;ich der<lb/>
Welt entzogen</hi>, im <hi rendition="#g">Dechant von<lb/>
Killerine</hi>, im <hi rendition="#g">Cleveland</hi> erregt in<lb/>
mir ein za&#x0364;rtliches Theilnehmen an den Un-<lb/>
glu&#x0364;cksfa&#x0364;llen der Tugend, und ko&#x017F;tet mich<lb/>
Thra&#x0364;nen. &#x2014; Ko&#x0364;nnte es eine un&#x017F;eligere<lb/>
Kun&#x017F;t geben, als die, die mich zum Mit-<lb/>
&#x017F;chuldigen des La&#x017F;terhaften machte? Aber<lb/>
wo i&#x017F;t auch eine &#x017F;cha&#x0364;tzbarere Kun&#x017F;t als die,<lb/>
die mich unvermerkt fu&#x0364;r das Schick&#x017F;al des<lb/>
recht&#x017F;chaffenen Mannes einnimmt, die mich<lb/>
aus der ruhigen und &#x017F;u&#x0364;ßen Fa&#x017F;&#x017F;ung, in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0157] „Der Dichter, der Romanſchreiber, der Schauſpieler dringen verſtohlner Weiſe ans Herz, und treffen es um ſo gewiſſer und ſtaͤrker, je weniger es den Streich ver- muthet, je mehr Bloͤße es folglich giebt. Die Ungluͤcksfaͤlle, durch die man mich ruͤhrt, ſind erdichtet: was thut das? Sie ruͤhren mich doch. Jede Zeile in dem Ehrlichen Manne, der ſich der Welt entzogen, im Dechant von Killerine, im Cleveland erregt in mir ein zaͤrtliches Theilnehmen an den Un- gluͤcksfaͤllen der Tugend, und koſtet mich Thraͤnen. — Koͤnnte es eine unſeligere Kunſt geben, als die, die mich zum Mit- ſchuldigen des Laſterhaften machte? Aber wo iſt auch eine ſchaͤtzbarere Kunſt als die, die mich unvermerkt fuͤr das Schickſal des rechtſchaffenen Mannes einnimmt, die mich aus der ruhigen und ſuͤßen Faſſung, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/157
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/157>, abgerufen am 23.11.2024.