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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794.

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reich warf man ihm vormals nur Mangel
an Geschmack vor; in Deutschland scheint
es ein Lieblingsgesichtspunkt zu werden, in
den Sitten seiner Helden, mithin wohl
gar in Homer selbst Mangel an Bildung,
an moralischem Geschmack zu finden
und dies unsterbliche Gedicht endlich nur
als die "historische Tradition wil-
der Zeiten" zu behandeln, die, wie man
sich ausdrückt, Homers glühende Einbil-
dungskraft aufnahm und veststellte. So
viel Wahres dieser Gesichtspunkt in man-
chem Betracht zeigen mag, so zeigt er ge-
wiß nicht alles Wahre, und sein Weniges
gewiß nicht auf die nützlichste Weise. Dazu
gehört keine Kunst, hie und da Ueberein-
stimmung der Zeiten, die er besang, mit
Völkern, die auf einer, wie uns dünkt,
niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin-
den, diese gefundene Aehnlichkeit zu über-

reich warf man ihm vormals nur Mangel
an Geſchmack vor; in Deutſchland ſcheint
es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden, in
den Sitten ſeiner Helden, mithin wohl
gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung,
an moraliſchem Geſchmack zu finden
und dies unſterbliche Gedicht endlich nur
als die „hiſtoriſche Tradition wil-
der Zeiten“ zu behandeln, die, wie man
ſich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil-
dungskraft aufnahm und veſtſtellte. So
viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man-
chem Betracht zeigen mag, ſo zeigt er ge-
wiß nicht alles Wahre, und ſein Weniges
gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe. Dazu
gehoͤrt keine Kunſt, hie und da Ueberein-
ſtimmung der Zeiten, die er beſang, mit
Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt,
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[77/0086] reich warf man ihm vormals nur Mangel an Geſchmack vor; in Deutſchland ſcheint es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden, in den Sitten ſeiner Helden, mithin wohl gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung, an moraliſchem Geſchmack zu finden und dies unſterbliche Gedicht endlich nur als die „hiſtoriſche Tradition wil- der Zeiten“ zu behandeln, die, wie man ſich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil- dungskraft aufnahm und veſtſtellte. So viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man- chem Betracht zeigen mag, ſo zeigt er ge- wiß nicht alles Wahre, und ſein Weniges gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe. Dazu gehoͤrt keine Kunſt, hie und da Ueberein- ſtimmung der Zeiten, die er beſang, mit Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt, niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin- den, dieſe gefundene Aehnlichkeit zu uͤber-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/86>, abgerufen am 25.11.2024.