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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

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So unentbehrlich dem Menschen diese
Tendenz nach dem Vortreflichsten und Voll-
kommensten ist, ohne welche er wie eine
Raupe umherkröche und vermoderte: so
leer bleibt dennoch die Seele, wenn sie
blos auf Flügeln der Imagination im Tau-
mel der Begeisterung fortgetragen in unge-
heuren Wüsten umherschweift. Das Un-
endliche giebt kein Bild: denn es hat keinen
Umriß; selten haben diesen auch die Poe-
sieen, die das Unermeßliche singen. Sie
schwingen sich entweder in ein Empyreum
des Urlichts voll Gestaltloser Seraphim auf,
oder wenn sie von da in die Tiefen des
menschlichen Herzens zurückkehren, kann die
erhöhete Speculation dennoch nur aus ihm
jene Urbilder himmlischer Schönheit holen,
die sie über den Wolken begrüßet und in
ein Paradies der Liebe und Seligkeit hin-
auf zaubert. Die Hymnen der mittleren

So unentbehrlich dem Menſchen dieſe
Tendenz nach dem Vortreflichſten und Voll-
kommenſten iſt, ohne welche er wie eine
Raupe umherkroͤche und vermoderte: ſo
leer bleibt dennoch die Seele, wenn ſie
blos auf Fluͤgeln der Imagination im Tau-
mel der Begeiſterung fortgetragen in unge-
heuren Wuͤſten umherſchweift. Das Un-
endliche giebt kein Bild: denn es hat keinen
Umriß; ſelten haben dieſen auch die Poe-
ſieen, die das Unermeßliche ſingen. Sie
ſchwingen ſich entweder in ein Empyreum
des Urlichts voll Geſtaltloſer Seraphim auf,
oder wenn ſie von da in die Tiefen des
menſchlichen Herzens zuruͤckkehren, kann die
erhoͤhete Speculation dennoch nur aus ihm
jene Urbilder himmliſcher Schoͤnheit holen,
die ſie uͤber den Wolken begruͤßet und in
ein Paradies der Liebe und Seligkeit hin-
auf zaubert. Die Hymnen der mittleren

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[41/0058] So unentbehrlich dem Menſchen dieſe Tendenz nach dem Vortreflichſten und Voll- kommenſten iſt, ohne welche er wie eine Raupe umherkroͤche und vermoderte: ſo leer bleibt dennoch die Seele, wenn ſie blos auf Fluͤgeln der Imagination im Tau- mel der Begeiſterung fortgetragen in unge- heuren Wuͤſten umherſchweift. Das Un- endliche giebt kein Bild: denn es hat keinen Umriß; ſelten haben dieſen auch die Poe- ſieen, die das Unermeßliche ſingen. Sie ſchwingen ſich entweder in ein Empyreum des Urlichts voll Geſtaltloſer Seraphim auf, oder wenn ſie von da in die Tiefen des menſchlichen Herzens zuruͤckkehren, kann die erhoͤhete Speculation dennoch nur aus ihm jene Urbilder himmliſcher Schoͤnheit holen, die ſie uͤber den Wolken begruͤßet und in ein Paradies der Liebe und Seligkeit hin- auf zaubert. Die Hymnen der mittleren

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/58>, abgerufen am 04.12.2024.