Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Meister ausschuf. Sein großes Gedicht
sollte kein Mährchen der alten Zeit, son-
dern in Form der Erzählung ein heiliges
Gedicht über Himmel und Hölle, über
Paradies, Unschuld und Sünde, mithin
eine Aussicht über unser ganzes Geschlecht
werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit-
kürzend vergnügen, sondern belehrend er-
bauen, und seine Encyklopädie von Wahr-
heiten in einer heiligen Sprache veststellend
verewigen. Daher wählte er weder Chau-
cers Reime, noch Spensers Stanzen;
den prächtigen Jambus wählte er, der
in manchem Englischen Psalm und alten
Volksgesange wie zur Trompete ertönt,
auch in Shakespear's tragischen Stük-
ken auf der Bühne viel Wirkung gethan
hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie
Shakespear leicht und fliessend; sondern,
dem Inhalt seines Gedichts und seinem

Meiſter ausſchuf. Sein großes Gedicht
ſollte kein Maͤhrchen der alten Zeit, ſon-
dern in Form der Erzaͤhlung ein heiliges
Gedicht uͤber Himmel und Hoͤlle, uͤber
Paradies, Unſchuld und Suͤnde, mithin
eine Ausſicht uͤber unſer ganzes Geſchlecht
werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit-
kuͤrzend vergnuͤgen, ſondern belehrend er-
bauen, und ſeine Encyklopaͤdie von Wahr-
heiten in einer heiligen Sprache veſtſtellend
verewigen. Daher waͤhlte er weder Chau-
cers Reime, noch Spenſers Stanzen;
den praͤchtigen Jambus waͤhlte er, der
in manchem Engliſchen Pſalm und alten
Volksgeſange wie zur Trompete ertoͤnt,
auch in Shakeſpear's tragiſchen Stuͤk-
ken auf der Buͤhne viel Wirkung gethan
hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie
Shakeſpear leicht und flieſſend; ſondern,
dem Inhalt ſeines Gedichts und ſeinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0104" n="85"/>
Mei&#x017F;ter aus&#x017F;chuf. Sein großes Gedicht<lb/>
&#x017F;ollte kein Ma&#x0364;hrchen der alten Zeit, &#x017F;on-<lb/>
dern in Form der Erza&#x0364;hlung ein heiliges<lb/>
Gedicht u&#x0364;ber Himmel und Ho&#x0364;lle, u&#x0364;ber<lb/>
Paradies, Un&#x017F;chuld und Su&#x0364;nde, mithin<lb/>
eine Aus&#x017F;icht u&#x0364;ber un&#x017F;er ganzes Ge&#x017F;chlecht<lb/>
werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit-<lb/>
ku&#x0364;rzend vergnu&#x0364;gen, &#x017F;ondern belehrend er-<lb/>
bauen, und &#x017F;eine Encyklopa&#x0364;die von Wahr-<lb/>
heiten in einer heiligen Sprache ve&#x017F;t&#x017F;tellend<lb/>
verewigen. Daher wa&#x0364;hlte er weder <hi rendition="#g">Chau</hi>-<lb/><hi rendition="#g">cers</hi> Reime, noch <hi rendition="#g">Spen&#x017F;ers</hi> Stanzen;<lb/>
den pra&#x0364;chtigen Jambus wa&#x0364;hlte er, der<lb/>
in manchem Engli&#x017F;chen P&#x017F;alm und alten<lb/>
Volksge&#x017F;ange wie zur Trompete erto&#x0364;nt,<lb/>
auch in <hi rendition="#g">Shake&#x017F;pear's</hi> tragi&#x017F;chen Stu&#x0364;k-<lb/>
ken auf der Bu&#x0364;hne viel Wirkung gethan<lb/>
hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie<lb/>
Shake&#x017F;pear leicht und flie&#x017F;&#x017F;end; &#x017F;ondern,<lb/>
dem Inhalt &#x017F;eines Gedichts und &#x017F;einem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0104] Meiſter ausſchuf. Sein großes Gedicht ſollte kein Maͤhrchen der alten Zeit, ſon- dern in Form der Erzaͤhlung ein heiliges Gedicht uͤber Himmel und Hoͤlle, uͤber Paradies, Unſchuld und Suͤnde, mithin eine Ausſicht uͤber unſer ganzes Geſchlecht werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit- kuͤrzend vergnuͤgen, ſondern belehrend er- bauen, und ſeine Encyklopaͤdie von Wahr- heiten in einer heiligen Sprache veſtſtellend verewigen. Daher waͤhlte er weder Chau- cers Reime, noch Spenſers Stanzen; den praͤchtigen Jambus waͤhlte er, der in manchem Engliſchen Pſalm und alten Volksgeſange wie zur Trompete ertoͤnt, auch in Shakeſpear's tragiſchen Stuͤk- ken auf der Buͤhne viel Wirkung gethan hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie Shakeſpear leicht und flieſſend; ſondern, dem Inhalt ſeines Gedichts und ſeinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/104
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/104>, abgerufen am 23.12.2024.