Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Wie Nationen wandern, wie sich die
Sprachen mischen und ändern, wie neue
Gegenstände die Menschen rühren, wie
ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre
Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in
der Zusammensetzung der Bilder und Be-
griffe, neue Vorbilder auf sie wirken,
selbst wie die Zunge, dies kleine Glied, sich
anders beweget und das Ohr sich an an-
dre Töne gewöhnt: so verändert sich die
Dichtkunst nicht nur bei verschiedenen Na-
tionen, sondern auch bei demselben Volke.
Die Poesie zu Homers Zeiten war bei
den Griechen ein andres Ding als zu
Longins Zeiten, selbst dem Begriff nach.
Ganz ein andres wars, was sich der Rö-
mer und der Mönch, der Araber und der
Kreuzritter, oder was nach wiedergefun-
denen Alten der Gelehrte, und in ver-
schiednen Zeitaltern verschiedner Nationen

Wie Nationen wandern, wie ſich die
Sprachen miſchen und aͤndern, wie neue
Gegenſtaͤnde die Menſchen ruͤhren, wie
ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre
Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in
der Zuſammenſetzung der Bilder und Be-
griffe, neue Vorbilder auf ſie wirken,
ſelbſt wie die Zunge, dies kleine Glied, ſich
anders beweget und das Ohr ſich an an-
dre Toͤne gewoͤhnt: ſo veraͤndert ſich die
Dichtkunſt nicht nur bei verſchiedenen Na-
tionen, ſondern auch bei demſelben Volke.
Die Poeſie zu Homers Zeiten war bei
den Griechen ein andres Ding als zu
Longins Zeiten, ſelbſt dem Begriff nach.
Ganz ein andres wars, was ſich der Roͤ-
mer und der Moͤnch, der Araber und der
Kreuzritter, oder was nach wiedergefun-
denen Alten der Gelehrte, und in ver-
ſchiednen Zeitaltern verſchiedner Nationen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0191" n="172"/>
        <p>Wie Nationen wandern, wie &#x017F;ich die<lb/>
Sprachen mi&#x017F;chen und a&#x0364;ndern, wie neue<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde die Men&#x017F;chen ru&#x0364;hren, wie<lb/>
ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre<lb/>
Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in<lb/>
der Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung der Bilder und Be-<lb/>
griffe, neue Vorbilder auf &#x017F;ie wirken,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t wie die Zunge, dies kleine Glied, &#x017F;ich<lb/>
anders beweget und das Ohr &#x017F;ich an an-<lb/>
dre To&#x0364;ne gewo&#x0364;hnt: &#x017F;o vera&#x0364;ndert &#x017F;ich die<lb/>
Dichtkun&#x017F;t nicht nur bei ver&#x017F;chiedenen Na-<lb/>
tionen, &#x017F;ondern auch bei dem&#x017F;elben Volke.<lb/>
Die Poe&#x017F;ie zu <hi rendition="#g">Homers</hi> Zeiten war bei<lb/>
den Griechen ein andres Ding als zu<lb/><hi rendition="#g">Longins</hi> Zeiten, &#x017F;elb&#x017F;t dem Begriff nach.<lb/>
Ganz ein andres wars, was &#x017F;ich der Ro&#x0364;-<lb/>
mer und der Mo&#x0364;nch, der Araber und der<lb/>
Kreuzritter, oder was nach wiedergefun-<lb/>
denen Alten der Gelehrte, und in ver-<lb/>
&#x017F;chiednen Zeitaltern ver&#x017F;chiedner Nationen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0191] Wie Nationen wandern, wie ſich die Sprachen miſchen und aͤndern, wie neue Gegenſtaͤnde die Menſchen ruͤhren, wie ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in der Zuſammenſetzung der Bilder und Be- griffe, neue Vorbilder auf ſie wirken, ſelbſt wie die Zunge, dies kleine Glied, ſich anders beweget und das Ohr ſich an an- dre Toͤne gewoͤhnt: ſo veraͤndert ſich die Dichtkunſt nicht nur bei verſchiedenen Na- tionen, ſondern auch bei demſelben Volke. Die Poeſie zu Homers Zeiten war bei den Griechen ein andres Ding als zu Longins Zeiten, ſelbſt dem Begriff nach. Ganz ein andres wars, was ſich der Roͤ- mer und der Moͤnch, der Araber und der Kreuzritter, oder was nach wiedergefun- denen Alten der Gelehrte, und in ver- ſchiednen Zeitaltern verſchiedner Nationen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/191
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/191>, abgerufen am 22.12.2024.