Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

die Geschichten seiner Vorwelt ohne merk-
liche besondre Theilnehmung; Oßian sin-
get sie aus seinem verwundeten Herzen,
aus seiner traurig-fröhlichen Erinnerung.
Thomson schildert Jahrszeiten, wie die
Natur sie giebt; Kleist singet seinen Früh-
ling, mit oft einbrechenden Gedanken an
sich und seine Freunde als eine Rhapsodie
von Ansichten mit Empfindungen beseelet.
Indessen auch dieser Unterschied bezeichnet
Dichter und Zeiten der Dichtkunst sehr
leise: denn auch Homer nimmt Theil an
seinen Gegenständen, als Grieche, als Er-
zähler, wie in den mittleren Zeiten die
Balladensänger und Fabliers, wie in neue-
ren Zeiten Ariost und Spenser, Cer-
vantes und Wieland. Ein Mehreres
zu thun wäre außer seinem Beruf gewe-
sen und hätte seine Erzählung gestöret.
In Anordnung und Bezeichnung seiner

die Geſchichten ſeiner Vorwelt ohne merk-
liche beſondre Theilnehmung; Oßian ſin-
get ſie aus ſeinem verwundeten Herzen,
aus ſeiner traurig-froͤhlichen Erinnerung.
Thomſon ſchildert Jahrszeiten, wie die
Natur ſie giebt; Kleiſt ſinget ſeinen Fruͤh-
ling, mit oft einbrechenden Gedanken an
ſich und ſeine Freunde als eine Rhapſodie
von Anſichten mit Empfindungen beſeelet.
Indeſſen auch dieſer Unterſchied bezeichnet
Dichter und Zeiten der Dichtkunſt ſehr
leiſe: denn auch Homer nimmt Theil an
ſeinen Gegenſtaͤnden, als Grieche, als Er-
zaͤhler, wie in den mittleren Zeiten die
Balladenſaͤnger und Fabliers, wie in neue-
ren Zeiten Arioſt und Spenſer, Cer-
vantes und Wieland. Ein Mehreres
zu thun waͤre außer ſeinem Beruf gewe-
ſen und haͤtte ſeine Erzaͤhlung geſtoͤret.
In Anordnung und Bezeichnung ſeiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0202" n="183"/>
die Ge&#x017F;chichten &#x017F;einer Vorwelt ohne merk-<lb/>
liche be&#x017F;ondre Theilnehmung; <hi rendition="#g">Oßian</hi> &#x017F;in-<lb/>
get &#x017F;ie aus &#x017F;einem verwundeten Herzen,<lb/>
aus &#x017F;einer traurig-fro&#x0364;hlichen Erinnerung.<lb/><hi rendition="#g">Thom&#x017F;on</hi> &#x017F;childert Jahrszeiten, wie die<lb/>
Natur &#x017F;ie giebt; <hi rendition="#g">Klei&#x017F;t</hi> &#x017F;inget &#x017F;einen Fru&#x0364;h-<lb/>
ling, mit oft einbrechenden Gedanken an<lb/>
&#x017F;ich und &#x017F;eine Freunde als eine Rhap&#x017F;odie<lb/>
von An&#x017F;ichten mit Empfindungen be&#x017F;eelet.<lb/>
Inde&#x017F;&#x017F;en auch die&#x017F;er Unter&#x017F;chied bezeichnet<lb/>
Dichter und Zeiten der Dichtkun&#x017F;t &#x017F;ehr<lb/>
lei&#x017F;e: denn auch <hi rendition="#g">Homer</hi> nimmt Theil an<lb/>
&#x017F;einen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden, als Grieche, als Er-<lb/>
za&#x0364;hler, wie in den mittleren Zeiten die<lb/>
Balladen&#x017F;a&#x0364;nger und <hi rendition="#aq">Fabliers,</hi> wie in neue-<lb/>
ren Zeiten <hi rendition="#g">Ario&#x017F;t</hi> und <hi rendition="#g">Spen&#x017F;er</hi>, <hi rendition="#g">Cer</hi>-<lb/><hi rendition="#g">vantes</hi> und <hi rendition="#g">Wieland</hi>. Ein Mehreres<lb/>
zu thun wa&#x0364;re außer &#x017F;einem Beruf gewe-<lb/>
&#x017F;en und ha&#x0364;tte &#x017F;eine Erza&#x0364;hlung ge&#x017F;to&#x0364;ret.<lb/>
In Anordnung und Bezeichnung &#x017F;einer<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0202] die Geſchichten ſeiner Vorwelt ohne merk- liche beſondre Theilnehmung; Oßian ſin- get ſie aus ſeinem verwundeten Herzen, aus ſeiner traurig-froͤhlichen Erinnerung. Thomſon ſchildert Jahrszeiten, wie die Natur ſie giebt; Kleiſt ſinget ſeinen Fruͤh- ling, mit oft einbrechenden Gedanken an ſich und ſeine Freunde als eine Rhapſodie von Anſichten mit Empfindungen beſeelet. Indeſſen auch dieſer Unterſchied bezeichnet Dichter und Zeiten der Dichtkunſt ſehr leiſe: denn auch Homer nimmt Theil an ſeinen Gegenſtaͤnden, als Grieche, als Er- zaͤhler, wie in den mittleren Zeiten die Balladenſaͤnger und Fabliers, wie in neue- ren Zeiten Arioſt und Spenſer, Cer- vantes und Wieland. Ein Mehreres zu thun waͤre außer ſeinem Beruf gewe- ſen und haͤtte ſeine Erzaͤhlung geſtoͤret. In Anordnung und Bezeichnung ſeiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/202
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/202>, abgerufen am 22.12.2024.