Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

"Doch freilich; wie die Krücke dem Lahmen
wohl hilft, sich von einem Ort zum andern

was von selbst mit reichen, frischen, reinen
Stralen aufgeschossen wäre. Nicht die Kri-
tik, sondern der leere Luftraum erstickt und
tödtet. Er presset unter Bedürfnissen, unter
Verhältnissen, die dem Geist keinen Tropfen
Erquickung (pabulum vitae) geben, und
jagt zuletzt den Verzweifelnden hie und dort
hin, allenthalben an flache Wände. Leßings
Lebensumstände dringen dem Verwundernden
die Frage ab: nicht, warum er nicht mehr
hervorgebracht? sondern wie er in seinen La-
gen Das und So viel und so kräftig habe
hervorbringen können, was er geleistet. Dazu
half ihm, wie er sagt, Kritik; aber Kritik
kann Kräfte nicht geben, sondern nur regeln,
ordnen. Also war die Känntniß der Alten,
die Bekanntschaft mit fremden Sprachen,
mit glücklichern Genies unter lebhaftern Völ-
kern in bessern Zeiten das Feuer, daran er
sich wärmte, das künstliche Glas, wodurch er
sein Auge stärkte. Und wehe dem besten
Deutschen Kopf, der sich nicht aus seiner, in
diese alte, oder fremde Welt zuweilen zu se-

„Doch freilich; wie die Kruͤcke dem Lahmen
wohl hilft, ſich von einem Ort zum andern

was von ſelbſt mit reichen, friſchen, reinen
Stralen aufgeſchoſſen waͤre. Nicht die Kri-
tik, ſondern der leere Luftraum erſtickt und
toͤdtet. Er preſſet unter Beduͤrfniſſen, unter
Verhaͤltniſſen, die dem Geiſt keinen Tropfen
Erquickung (pabulum vitae) geben, und
jagt zuletzt den Verzweifelnden hie und dort
hin, allenthalben an flache Waͤnde. Leßings
Lebensumſtaͤnde dringen dem Verwundernden
die Frage ab: nicht, warum er nicht mehr
hervorgebracht? ſondern wie er in ſeinen La-
gen Das und So viel und ſo kraͤftig habe
hervorbringen koͤnnen, was er geleiſtet. Dazu
half ihm, wie er ſagt, Kritik; aber Kritik
kann Kraͤfte nicht geben, ſondern nur regeln,
ordnen. Alſo war die Kaͤnntniß der Alten,
die Bekanntſchaft mit fremden Sprachen,
mit gluͤcklichern Genies unter lebhaftern Voͤl-
kern in beſſern Zeiten das Feuer, daran er
ſich waͤrmte, das kuͤnſtliche Glas, wodurch er
ſein Auge ſtaͤrkte. Und wehe dem beſten
Deutſchen Kopf, der ſich nicht aus ſeiner, in
dieſe alte, oder fremde Welt zuweilen zu ſe-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0113" n="106"/>
        <p>&#x201E;Doch freilich; wie die Kru&#x0364;cke dem Lahmen<lb/>
wohl hilft, &#x017F;ich von einem Ort zum andern<lb/><note next="#note-0114" xml:id="note-0113" prev="#note-0112" place="foot" n="*)">was von &#x017F;elb&#x017F;t mit reichen, fri&#x017F;chen, reinen<lb/>
Stralen aufge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en wa&#x0364;re. Nicht die Kri-<lb/>
tik, &#x017F;ondern der leere Luftraum er&#x017F;tickt und<lb/>
to&#x0364;dtet. Er pre&#x017F;&#x017F;et unter Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;en, unter<lb/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en, die dem Gei&#x017F;t keinen Tropfen<lb/>
Erquickung <hi rendition="#aq">(pabulum vitae)</hi> geben, und<lb/>
jagt zuletzt den Verzweifelnden hie und dort<lb/>
hin, allenthalben an flache Wa&#x0364;nde. Leßings<lb/>
Lebensum&#x017F;ta&#x0364;nde dringen dem Verwundernden<lb/>
die Frage ab: nicht, warum er nicht mehr<lb/>
hervorgebracht? &#x017F;ondern wie er in &#x017F;einen La-<lb/>
gen Das und So viel und &#x017F;o kra&#x0364;ftig habe<lb/>
hervorbringen ko&#x0364;nnen, was er gelei&#x017F;tet. Dazu<lb/>
half ihm, wie er &#x017F;agt, <hi rendition="#g">Kritik</hi>; aber Kritik<lb/>
kann Kra&#x0364;fte nicht geben, &#x017F;ondern nur regeln,<lb/>
ordnen. Al&#x017F;o war die Ka&#x0364;nntniß der Alten,<lb/>
die Bekannt&#x017F;chaft mit fremden Sprachen,<lb/>
mit glu&#x0364;cklichern Genies unter lebhaftern Vo&#x0364;l-<lb/>
kern in be&#x017F;&#x017F;ern Zeiten das Feuer, daran er<lb/>
&#x017F;ich wa&#x0364;rmte, das ku&#x0364;n&#x017F;tliche Glas, wodurch er<lb/>
&#x017F;ein Auge &#x017F;ta&#x0364;rkte. Und wehe dem be&#x017F;ten<lb/>
Deut&#x017F;chen Kopf, der &#x017F;ich nicht aus &#x017F;einer, in<lb/>
die&#x017F;e alte, oder fremde Welt zuweilen zu &#x017F;e-</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0113] „Doch freilich; wie die Kruͤcke dem Lahmen wohl hilft, ſich von einem Ort zum andern *) *) was von ſelbſt mit reichen, friſchen, reinen Stralen aufgeſchoſſen waͤre. Nicht die Kri- tik, ſondern der leere Luftraum erſtickt und toͤdtet. Er preſſet unter Beduͤrfniſſen, unter Verhaͤltniſſen, die dem Geiſt keinen Tropfen Erquickung (pabulum vitae) geben, und jagt zuletzt den Verzweifelnden hie und dort hin, allenthalben an flache Waͤnde. Leßings Lebensumſtaͤnde dringen dem Verwundernden die Frage ab: nicht, warum er nicht mehr hervorgebracht? ſondern wie er in ſeinen La- gen Das und So viel und ſo kraͤftig habe hervorbringen koͤnnen, was er geleiſtet. Dazu half ihm, wie er ſagt, Kritik; aber Kritik kann Kraͤfte nicht geben, ſondern nur regeln, ordnen. Alſo war die Kaͤnntniß der Alten, die Bekanntſchaft mit fremden Sprachen, mit gluͤcklichern Genies unter lebhaftern Voͤl- kern in beſſern Zeiten das Feuer, daran er ſich waͤrmte, das kuͤnſtliche Glas, wodurch er ſein Auge ſtaͤrkte. Und wehe dem beſten Deutſchen Kopf, der ſich nicht aus ſeiner, in dieſe alte, oder fremde Welt zuweilen zu ſe-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/113
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/113>, abgerufen am 26.11.2024.