Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

studirt zu haben, sie mehr studirt zu haben,
als zwanzig die sie ausüben. Ich verlange
auch nur eine Stimme unter uns, wo so man-
cher sich eine anmaaßt, der, wenn er nicht
dem oder jenem Ausländer nachplaudern ge-
lernt hätte, stummer seyn würde, als ein
Fisch. -- Aber man kann studiren und sich
tief in den Irrthum hineinstudiren. Was
mich also versichert, daß mir dergleichen nicht
begegnet sei, daß ich das Wesen der dramati-
schen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß
ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristo-
teles aus den unzähligen Meisterstücken der
griechischen Bühne abstrahirt hat. Ich stehe
nicht an, zu bekennen (und sollte ich in die-
sen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht
werden!) daß ich sie für ein eben so unfehl-
bares Werk halte, als die Elemente des Eu-
klides nur immer sind. Ihre Grundsätze
sind eben so wahr und gewiß, nur freilich nicht
so faßlich, und daher mehr der Chikane aus-
gesetzt, als alles was diese enthalten.

ſtudirt zu haben, ſie mehr ſtudirt zu haben,
als zwanzig die ſie ausuͤben. Ich verlange
auch nur eine Stimme unter uns, wo ſo man-
cher ſich eine anmaaßt, der, wenn er nicht
dem oder jenem Auslaͤnder nachplaudern ge-
lernt haͤtte, ſtummer ſeyn wuͤrde, als ein
Fiſch. — Aber man kann ſtudiren und ſich
tief in den Irrthum hineinſtudiren. Was
mich alſo verſichert, daß mir dergleichen nicht
begegnet ſei, daß ich das Weſen der dramati-
ſchen Dichtkunſt nicht verkenne, iſt dieſes, daß
ich es vollkommen ſo erkenne, wie es Ariſto-
teles aus den unzaͤhligen Meiſterſtuͤcken der
griechiſchen Buͤhne abſtrahirt hat. Ich ſtehe
nicht an, zu bekennen (und ſollte ich in die-
ſen erleuchteten Zeiten auch daruͤber ausgelacht
werden!) daß ich ſie fuͤr ein eben ſo unfehl-
bares Werk halte, als die Elemente des Eu-
klides nur immer ſind. Ihre Grundſaͤtze
ſind eben ſo wahr und gewiß, nur freilich nicht
ſo faßlich, und daher mehr der Chikane aus-
geſetzt, als alles was dieſe enthalten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0116" n="109"/>
&#x017F;tudirt zu haben, &#x017F;ie mehr &#x017F;tudirt zu haben,<lb/>
als zwanzig die &#x017F;ie ausu&#x0364;ben. Ich verlange<lb/>
auch nur eine Stimme unter uns, wo &#x017F;o man-<lb/>
cher &#x017F;ich eine anmaaßt, der, wenn er nicht<lb/>
dem oder jenem Ausla&#x0364;nder nachplaudern ge-<lb/>
lernt ha&#x0364;tte, &#x017F;tummer &#x017F;eyn wu&#x0364;rde, als ein<lb/>
Fi&#x017F;ch. &#x2014; Aber man kann &#x017F;tudiren und &#x017F;ich<lb/>
tief in den Irrthum hinein&#x017F;tudiren. Was<lb/>
mich al&#x017F;o ver&#x017F;ichert, daß mir dergleichen nicht<lb/>
begegnet &#x017F;ei, daß ich das We&#x017F;en der dramati-<lb/>
&#x017F;chen Dichtkun&#x017F;t nicht verkenne, i&#x017F;t die&#x017F;es, daß<lb/>
ich es vollkommen &#x017F;o erkenne, wie es <hi rendition="#g">Ari&#x017F;to</hi>-<lb/><hi rendition="#g">teles</hi> aus den unza&#x0364;hligen Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;cken der<lb/>
griechi&#x017F;chen Bu&#x0364;hne ab&#x017F;trahirt hat. Ich &#x017F;tehe<lb/>
nicht an, zu bekennen (und &#x017F;ollte ich in die-<lb/>
&#x017F;en erleuchteten Zeiten auch daru&#x0364;ber ausgelacht<lb/>
werden!) daß ich &#x017F;ie fu&#x0364;r ein eben &#x017F;o unfehl-<lb/>
bares Werk halte, als die Elemente des <hi rendition="#g">Eu</hi>-<lb/><hi rendition="#g">klides</hi> nur immer &#x017F;ind. Ihre Grund&#x017F;a&#x0364;tze<lb/>
&#x017F;ind eben &#x017F;o wahr und gewiß, nur freilich nicht<lb/>
&#x017F;o faßlich, und daher mehr der Chikane aus-<lb/>
ge&#x017F;etzt, als alles was die&#x017F;e enthalten.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0116] ſtudirt zu haben, ſie mehr ſtudirt zu haben, als zwanzig die ſie ausuͤben. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo ſo man- cher ſich eine anmaaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Auslaͤnder nachplaudern ge- lernt haͤtte, ſtummer ſeyn wuͤrde, als ein Fiſch. — Aber man kann ſtudiren und ſich tief in den Irrthum hineinſtudiren. Was mich alſo verſichert, daß mir dergleichen nicht begegnet ſei, daß ich das Weſen der dramati- ſchen Dichtkunſt nicht verkenne, iſt dieſes, daß ich es vollkommen ſo erkenne, wie es Ariſto- teles aus den unzaͤhligen Meiſterſtuͤcken der griechiſchen Buͤhne abſtrahirt hat. Ich ſtehe nicht an, zu bekennen (und ſollte ich in die- ſen erleuchteten Zeiten auch daruͤber ausgelacht werden!) daß ich ſie fuͤr ein eben ſo unfehl- bares Werk halte, als die Elemente des Eu- klides nur immer ſind. Ihre Grundſaͤtze ſind eben ſo wahr und gewiß, nur freilich nicht ſo faßlich, und daher mehr der Chikane aus- geſetzt, als alles was dieſe enthalten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/116
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/116>, abgerufen am 26.11.2024.