nehme jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führe sie durch alle mög- liche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Abänderungen, die dem Künstler ein ganzes besondres Stück kosten würde, koste ihm einen ein- zigen Zug u. s. w. Das Kennzeichen selbst ist, wie gesagt, längst angegeben; Hr. L. macht aber dies angegebne Kennzeichen praktisch.
Nichts Uebergehendes also wähle die Kunst zum Augenblicke ihres Gegenstandes a): aber was ist denn eigentlich, was in der Natur nicht transitorisch, was in ihr völlig permanent wäre? Wir leben in einer Welt von Erscheinungen, wo eine auf die andre folgt, und ein Augenblick den andern vernichtet; alles in der Welt ist an den Flügel der Zeit gebun- den, und Bewegung, Abwechselung, Wirkung ist die Seele der Natur. Metaphysisch also -- doch wir wollen hier nicht metaphysisch; sinnlich wollen wir reden: und im sinnlichen Verstande, nach der Erscheinung unsrer Augen giebt es da nicht unab- läßige, daurende Gegenstände gnug, die also die Kunst nachahmen soll? Allerdings, es giebt solche; und dies sind gewissermaßen alle Körper, und zwar so fern sie Körper sind. Diese, so abwechselnd ihre Zeit folgen und Zustände auch seyn mögen; so schnell auch jeder Augenblick ihres Seyns sie änders: so geht er doch nicht unsern Augen vorüber; für
diese
a)p. 25.
Kritiſche Waͤlder.
nehme jede ſeiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Urſprunge auf, und fuͤhre ſie durch alle moͤg- liche Abaͤnderungen bis zu ihrer Endſchaft. Jede dieſer Abaͤnderungen, die dem Kuͤnſtler ein ganzes beſondres Stuͤck koſten wuͤrde, koſte ihm einen ein- zigen Zug u. ſ. w. Das Kennzeichen ſelbſt iſt, wie geſagt, laͤngſt angegeben; Hr. L. macht aber dies angegebne Kennzeichen praktiſch.
Nichts Uebergehendes alſo waͤhle die Kunſt zum Augenblicke ihres Gegenſtandes a): aber was iſt denn eigentlich, was in der Natur nicht tranſitoriſch, was in ihr voͤllig permanent waͤre? Wir leben in einer Welt von Erſcheinungen, wo eine auf die andre folgt, und ein Augenblick den andern vernichtet; alles in der Welt iſt an den Fluͤgel der Zeit gebun- den, und Bewegung, Abwechſelung, Wirkung iſt die Seele der Natur. Metaphyſiſch alſo — doch wir wollen hier nicht metaphyſiſch; ſinnlich wollen wir reden: und im ſinnlichen Verſtande, nach der Erſcheinung unſrer Augen giebt es da nicht unab- laͤßige, daurende Gegenſtaͤnde gnug, die alſo die Kunſt nachahmen ſoll? Allerdings, es giebt ſolche; und dies ſind gewiſſermaßen alle Koͤrper, und zwar ſo fern ſie Koͤrper ſind. Dieſe, ſo abwechſelnd ihre Zeit folgen und Zuſtaͤnde auch ſeyn moͤgen; ſo ſchnell auch jeder Augenblick ihres Seyns ſie aͤnders: ſo geht er doch nicht unſern Augen voruͤber; fuͤr
dieſe
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Kritiſche Waͤlder.
nehme jede ſeiner Handlungen, wenn er will, bei
ihrem Urſprunge auf, und fuͤhre ſie durch alle moͤg-
liche Abaͤnderungen bis zu ihrer Endſchaft. Jede
dieſer Abaͤnderungen, die dem Kuͤnſtler ein ganzes
beſondres Stuͤck koſten wuͤrde, koſte ihm einen ein-
zigen Zug u. ſ. w. Das Kennzeichen ſelbſt iſt, wie
geſagt, laͤngſt angegeben; Hr. L. macht aber dies
angegebne Kennzeichen praktiſch.
Nichts Uebergehendes alſo waͤhle die Kunſt zum
Augenblicke ihres Gegenſtandes a): aber was iſt
denn eigentlich, was in der Natur nicht tranſitoriſch,
was in ihr voͤllig permanent waͤre? Wir leben in
einer Welt von Erſcheinungen, wo eine auf die andre
folgt, und ein Augenblick den andern vernichtet;
alles in der Welt iſt an den Fluͤgel der Zeit gebun-
den, und Bewegung, Abwechſelung, Wirkung iſt
die Seele der Natur. Metaphyſiſch alſo — doch
wir wollen hier nicht metaphyſiſch; ſinnlich wollen
wir reden: und im ſinnlichen Verſtande, nach der
Erſcheinung unſrer Augen giebt es da nicht unab-
laͤßige, daurende Gegenſtaͤnde gnug, die alſo die
Kunſt nachahmen ſoll? Allerdings, es giebt ſolche;
und dies ſind gewiſſermaßen alle Koͤrper, und zwar
ſo fern ſie Koͤrper ſind. Dieſe, ſo abwechſelnd ihre
Zeit folgen und Zuſtaͤnde auch ſeyn moͤgen; ſo
ſchnell auch jeder Augenblick ihres Seyns ſie aͤnders:
ſo geht er doch nicht unſern Augen voruͤber; fuͤr
dieſe
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/114>, abgerufen am 16.02.2025.
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