historischer Personen, und laufen Gefahr, unkännt- lich zu werden.
So bald es aber dem Künstler die Grenzen seiner Kunst verstatten, dem Dichter zu folgen; so gleich nimmt der Dichter, dem eigentlich die My- thologie gehört, sein Recht wieder, und die Anord- nung des Kunstwerks wird, dem Ursprunge mytho- logischer Jdeen gemäß, dichterisch. Blos um das Unkänntliche zu vermeiden, schränkte er sich auf die abstrakte Jdee ein; Noth und Dürftigkeit war sein Gesetz: ist aber dies Gesetz -- diese Furcht gehoben; kann er auf andere Art hoffen, känntlich zu werden, als durch die einförmige Charaktervorstellung; ver- beut das Wesen seiner Kunst diese andre Art der Känntlichkeit nicht; erreicht er durch dieselbe gar ei- nen Zweck, den er durch die abstrakte Jdee nicht er- langen konnte: so hat er mit dem Dichter einerlei Rechte. Die ganze Mythologie ist eigentlich ein Land dichterischer Jdeen, und auch wenn sie der Künstler bildet, wird er Dichter.
Und bei diesem ganzen Privilegium des Künstlers, worauf kommt sein unumschränkter Gebrauch an? auf das Wort: Handlung. Kann der Künstler z. E. Maler, seinem Werke Handlung geben; kann er mehrere Personen gruppiren, die gemeinschaftlich eine poetische oder historische Situation vorstellen, känntlich und schön vorstellen können; o so vergesse er sicher die innere und äußere Charakteristik seiner
Göt-
J 2
Erſtes Waͤldchen.
hiſtoriſcher Perſonen, und laufen Gefahr, unkaͤnnt- lich zu werden.
So bald es aber dem Kuͤnſtler die Grenzen ſeiner Kunſt verſtatten, dem Dichter zu folgen; ſo gleich nimmt der Dichter, dem eigentlich die My- thologie gehoͤrt, ſein Recht wieder, und die Anord- nung des Kunſtwerks wird, dem Urſprunge mytho- logiſcher Jdeen gemaͤß, dichteriſch. Blos um das Unkaͤnntliche zu vermeiden, ſchraͤnkte er ſich auf die abſtrakte Jdee ein; Noth und Duͤrftigkeit war ſein Geſetz: iſt aber dies Geſetz — dieſe Furcht gehoben; kann er auf andere Art hoffen, kaͤnntlich zu werden, als durch die einfoͤrmige Charaktervorſtellung; ver- beut das Weſen ſeiner Kunſt dieſe andre Art der Kaͤnntlichkeit nicht; erreicht er durch dieſelbe gar ei- nen Zweck, den er durch die abſtrakte Jdee nicht er- langen konnte: ſo hat er mit dem Dichter einerlei Rechte. Die ganze Mythologie iſt eigentlich ein Land dichteriſcher Jdeen, und auch wenn ſie der Kuͤnſtler bildet, wird er Dichter.
Und bei dieſem ganzen Privilegium des Kuͤnſtlers, worauf kommt ſein unumſchraͤnkter Gebrauch an? auf das Wort: Handlung. Kann der Kuͤnſtler z. E. Maler, ſeinem Werke Handlung geben; kann er mehrere Perſonen gruppiren, die gemeinſchaftlich eine poetiſche oder hiſtoriſche Situation vorſtellen, kaͤnntlich und ſchoͤn vorſtellen koͤnnen; o ſo vergeſſe er ſicher die innere und aͤußere Charakteriſtik ſeiner
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Erſtes Waͤldchen.
hiſtoriſcher Perſonen, und laufen Gefahr, unkaͤnnt-
lich zu werden.
So bald es aber dem Kuͤnſtler die Grenzen
ſeiner Kunſt verſtatten, dem Dichter zu folgen; ſo
gleich nimmt der Dichter, dem eigentlich die My-
thologie gehoͤrt, ſein Recht wieder, und die Anord-
nung des Kunſtwerks wird, dem Urſprunge mytho-
logiſcher Jdeen gemaͤß, dichteriſch. Blos um das
Unkaͤnntliche zu vermeiden, ſchraͤnkte er ſich auf die
abſtrakte Jdee ein; Noth und Duͤrftigkeit war ſein
Geſetz: iſt aber dies Geſetz — dieſe Furcht gehoben;
kann er auf andere Art hoffen, kaͤnntlich zu werden,
als durch die einfoͤrmige Charaktervorſtellung; ver-
beut das Weſen ſeiner Kunſt dieſe andre Art der
Kaͤnntlichkeit nicht; erreicht er durch dieſelbe gar ei-
nen Zweck, den er durch die abſtrakte Jdee nicht er-
langen konnte: ſo hat er mit dem Dichter einerlei
Rechte. Die ganze Mythologie iſt eigentlich ein
Land dichteriſcher Jdeen, und auch wenn ſie der
Kuͤnſtler bildet, wird er Dichter.
Und bei dieſem ganzen Privilegium des Kuͤnſtlers,
worauf kommt ſein unumſchraͤnkter Gebrauch an?
auf das Wort: Handlung. Kann der Kuͤnſtler
z. E. Maler, ſeinem Werke Handlung geben; kann
er mehrere Perſonen gruppiren, die gemeinſchaftlich
eine poetiſche oder hiſtoriſche Situation vorſtellen,
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/137>, abgerufen am 16.02.2025.
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