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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
dem Worte "offenbarer Anblick" liegt, der Epigram-
matist meint nackt; Homer meint "ohne fremde
"Einkleidung, wie die Götter sind." Die Stelle
Homers bestätigt also unsere Meinug: und scheint
gar ein Axiom in der griechischen Mythologie ge-
worden zu seyn.

Juno nämlich, die dem Achilles zu Hülfe will,
macht den Lehrspruch a): daß, wenn Achilles einen
Gott gegen sich sehen würde: so müßte er erschrecken:
denn "fürchterlich ist der Anblick der Götter, wenn
sie offenbar, (wenn sie ohne menschliche Einhüllung)
erscheinen. Wie ist unsichtbar seyn also ihr natür-
licher Zustand?

Nach diesem Axiom scheint Homer in Seiner gan-
zen Götterdichtung zu verfahren. Sind die Göt-
ter unter sich, so sind sie auch unter sich sichtbar;
sollen sie aber unter Menschen wirken -- unerkannt
oder erkannt, darnach richtet sich das Schema ihrer
Erscheinung. Phöbus Apollo b) steigt vom
Himmel herab in seiner ganzen göttlichen Gestalt:
Köcher und Bogen ruhen auf seiner Schulter: auf
seiner Schulter klingen die Pfeile, bei seinem zorni-
gen Gange. Nun hatte er sich schon von den Hö-
hen des Himmels herabgelassen, und gieng der
Nacht gleich:
bis er sich weit von den Schiffen

nieder-
a) Iliad. I. v. 131. Khalepoi de theoi phainethai [fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]enargeis.
b) Iliad. A. v. 47. (nukti eoi[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]os)
L

Erſtes Waͤldchen.
dem Worte „offenbarer Anblick„ liegt, der Epigram-
matiſt meint nackt; Homer meint „ohne fremde
„Einkleidung, wie die Goͤtter ſind.„ Die Stelle
Homers beſtaͤtigt alſo unſere Meinug: und ſcheint
gar ein Axiom in der griechiſchen Mythologie ge-
worden zu ſeyn.

Juno naͤmlich, die dem Achilles zu Huͤlfe will,
macht den Lehrſpruch a): daß, wenn Achilles einen
Gott gegen ſich ſehen wuͤrde: ſo muͤßte er erſchrecken:
denn „fuͤrchterlich iſt der Anblick der Goͤtter, wenn
ſie offenbar, (wenn ſie ohne menſchliche Einhuͤllung)
erſcheinen. Wie iſt unſichtbar ſeyn alſo ihr natuͤr-
licher Zuſtand?

Nach dieſem Axiom ſcheint Homer in Seiner gan-
zen Goͤtterdichtung zu verfahren. Sind die Goͤt-
ter unter ſich, ſo ſind ſie auch unter ſich ſichtbar;
ſollen ſie aber unter Menſchen wirken — unerkannt
oder erkannt, darnach richtet ſich das Schema ihrer
Erſcheinung. Phoͤbus Apollo b) ſteigt vom
Himmel herab in ſeiner ganzen goͤttlichen Geſtalt:
Koͤcher und Bogen ruhen auf ſeiner Schulter: auf
ſeiner Schulter klingen die Pfeile, bei ſeinem zorni-
gen Gange. Nun hatte er ſich ſchon von den Hoͤ-
hen des Himmels herabgelaſſen, und gieng der
Nacht gleich:
bis er ſich weit von den Schiffen

nieder-
a) Iliad. Ι. v. 131. Χαλεποὶ δὲ ϑεοὶ φαίνεϑαι [fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]εναργεῖς.
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[161/0167] Erſtes Waͤldchen. dem Worte „offenbarer Anblick„ liegt, der Epigram- matiſt meint nackt; Homer meint „ohne fremde „Einkleidung, wie die Goͤtter ſind.„ Die Stelle Homers beſtaͤtigt alſo unſere Meinug: und ſcheint gar ein Axiom in der griechiſchen Mythologie ge- worden zu ſeyn. Juno naͤmlich, die dem Achilles zu Huͤlfe will, macht den Lehrſpruch a): daß, wenn Achilles einen Gott gegen ſich ſehen wuͤrde: ſo muͤßte er erſchrecken: denn „fuͤrchterlich iſt der Anblick der Goͤtter, wenn ſie offenbar, (wenn ſie ohne menſchliche Einhuͤllung) erſcheinen. Wie iſt unſichtbar ſeyn alſo ihr natuͤr- licher Zuſtand? Nach dieſem Axiom ſcheint Homer in Seiner gan- zen Goͤtterdichtung zu verfahren. Sind die Goͤt- ter unter ſich, ſo ſind ſie auch unter ſich ſichtbar; ſollen ſie aber unter Menſchen wirken — unerkannt oder erkannt, darnach richtet ſich das Schema ihrer Erſcheinung. Phoͤbus Apollo b) ſteigt vom Himmel herab in ſeiner ganzen goͤttlichen Geſtalt: Koͤcher und Bogen ruhen auf ſeiner Schulter: auf ſeiner Schulter klingen die Pfeile, bei ſeinem zorni- gen Gange. Nun hatte er ſich ſchon von den Hoͤ- hen des Himmels herabgelaſſen, und gieng der Nacht gleich: bis er ſich weit von den Schiffen nieder- a) Iliad. Ι. v. 131. Χαλεποὶ δὲ ϑεοὶ φαίνεϑαι _ εναργεῖς. b) Iliad. Α. v. 47. (νυκτὶ ἐοι_ ὼς) L

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/167>, abgerufen am 30.11.2024.