Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
derbaren Begebenheiten schlossen die Helden, daß
hie oder da ein Gott seine Hand mit im Spiele ha-
ben müsse. Sie fürchteten sich also, einem so verklei-
deten Gotte zu begegnen, weil es bei ihnen eine Ma-
xime geworden: "keiner lebt lange, der einem Got-
"te widersteht, oder schadet." Mit griechischer
Ehrlichkeit fragt ein Held den andern, so offen zu
seyn, und zu sagen: ob er ein Gott, oder ein Sterb-
licher sey? damit er wisse, mit wem er zu thun ha-
be. Und mit himmlischer Offenherzigkeit entdeckt
sich der Gott, wenn er ins Gedränge geräth, daß
man ihm aus dem Wege weichen sollte. -- --
Kurzum! weil das ganze homerische Treffen voll
verkleidet wandelnder Götter ist, weil der Dichter
diese Hypothese wissentlich allen Helden und Strei-
tern voraus setzt: freilich so gehört eine Minerva
dazu, um diese eingekörperten Wesen vor andern
Menschen kennbar zu machen. Aber nicht also,
daß sie das Gesicht Diomedes erhöhen dorfte,
um Unsterbliche zu sehen: denn die Unsterblichen
glichen hier Menschen; sondern, um ihm diese und
jene mordende Figur kennbar zu machen, daß sie
etwas mehr sey, als wofür er sie ansehe, daß sie
kein Mensch, sondern ein wandelnder Gott sey a),
u. s. f. kurz! hier erscheinen die Götter in einem
hindernden Vehikulum gleichsam, und in diesem

Vehi-
a) Iliad. E. 126. -- 130.
L 3

Erſtes Waͤldchen.
derbaren Begebenheiten ſchloſſen die Helden, daß
hie oder da ein Gott ſeine Hand mit im Spiele ha-
ben muͤſſe. Sie fuͤrchteten ſich alſo, einem ſo verklei-
deten Gotte zu begegnen, weil es bei ihnen eine Ma-
xime geworden: „keiner lebt lange, der einem Got-
„te widerſteht, oder ſchadet.„ Mit griechiſcher
Ehrlichkeit fragt ein Held den andern, ſo offen zu
ſeyn, und zu ſagen: ob er ein Gott, oder ein Sterb-
licher ſey? damit er wiſſe, mit wem er zu thun ha-
be. Und mit himmliſcher Offenherzigkeit entdeckt
ſich der Gott, wenn er ins Gedraͤnge geraͤth, daß
man ihm aus dem Wege weichen ſollte. — —
Kurzum! weil das ganze homeriſche Treffen voll
verkleidet wandelnder Goͤtter iſt, weil der Dichter
dieſe Hypotheſe wiſſentlich allen Helden und Strei-
tern voraus ſetzt: freilich ſo gehoͤrt eine Minerva
dazu, um dieſe eingekoͤrperten Weſen vor andern
Menſchen kennbar zu machen. Aber nicht alſo,
daß ſie das Geſicht Diomedes erhoͤhen dorfte,
um Unſterbliche zu ſehen: denn die Unſterblichen
glichen hier Menſchen; ſondern, um ihm dieſe und
jene mordende Figur kennbar zu machen, daß ſie
etwas mehr ſey, als wofuͤr er ſie anſehe, daß ſie
kein Menſch, ſondern ein wandelnder Gott ſey a),
u. ſ. f. kurz! hier erſcheinen die Goͤtter in einem
hindernden Vehikulum gleichſam, und in dieſem

Vehi-
a) Iliad. Ε. 126. — 130.
L 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="165"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
derbaren Begebenheiten <hi rendition="#fr">&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en</hi> die Helden, daß<lb/>
hie oder da ein Gott &#x017F;eine Hand mit im Spiele ha-<lb/>
ben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Sie fu&#x0364;rchteten &#x017F;ich al&#x017F;o, einem &#x017F;o verklei-<lb/>
deten Gotte zu begegnen, weil es bei ihnen eine Ma-<lb/>
xime geworden: &#x201E;keiner lebt lange, der einem Got-<lb/>
&#x201E;te wider&#x017F;teht, oder &#x017F;chadet.&#x201E; Mit griechi&#x017F;cher<lb/>
Ehrlichkeit fragt ein Held den andern, &#x017F;o offen zu<lb/>
&#x017F;eyn, und zu &#x017F;agen: ob er ein Gott, oder ein Sterb-<lb/>
licher &#x017F;ey? damit er wi&#x017F;&#x017F;e, mit wem er zu thun ha-<lb/>
be. Und mit himmli&#x017F;cher Offenherzigkeit entdeckt<lb/>
&#x017F;ich der Gott, wenn er ins Gedra&#x0364;nge gera&#x0364;th, daß<lb/>
man ihm aus dem Wege weichen &#x017F;ollte. &#x2014; &#x2014;<lb/>
Kurzum! weil das ganze homeri&#x017F;che Treffen voll<lb/>
verkleidet wandelnder Go&#x0364;tter i&#x017F;t, weil der Dichter<lb/>
die&#x017F;e Hypothe&#x017F;e wi&#x017F;&#x017F;entlich allen Helden und Strei-<lb/>
tern voraus &#x017F;etzt: freilich &#x017F;o geho&#x0364;rt eine Minerva<lb/>
dazu, um die&#x017F;e eingeko&#x0364;rperten We&#x017F;en vor andern<lb/>
Men&#x017F;chen kennbar zu machen. Aber nicht al&#x017F;o,<lb/>
daß &#x017F;ie <hi rendition="#fr">das Ge&#x017F;icht Diomedes erho&#x0364;hen</hi> dorfte,<lb/>
um Un&#x017F;terbliche zu &#x017F;ehen: denn die Un&#x017F;terblichen<lb/>
glichen hier Men&#x017F;chen; &#x017F;ondern, um ihm die&#x017F;e und<lb/>
jene mordende Figur <hi rendition="#fr">kennbar</hi> zu machen, daß &#x017F;ie<lb/>
etwas mehr &#x017F;ey, als wofu&#x0364;r er &#x017F;ie an&#x017F;ehe, daß &#x017F;ie<lb/>
kein Men&#x017F;ch, &#x017F;ondern ein wandelnder Gott &#x017F;ey <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">Iliad.</hi> &#x0395;. 126. &#x2014; 130.</note>,<lb/>
u. &#x017F;. f. kurz! hier er&#x017F;cheinen die Go&#x0364;tter in einem<lb/>
hindernden Vehikulum gleich&#x017F;am, und in die&#x017F;em<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Vehi-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0171] Erſtes Waͤldchen. derbaren Begebenheiten ſchloſſen die Helden, daß hie oder da ein Gott ſeine Hand mit im Spiele ha- ben muͤſſe. Sie fuͤrchteten ſich alſo, einem ſo verklei- deten Gotte zu begegnen, weil es bei ihnen eine Ma- xime geworden: „keiner lebt lange, der einem Got- „te widerſteht, oder ſchadet.„ Mit griechiſcher Ehrlichkeit fragt ein Held den andern, ſo offen zu ſeyn, und zu ſagen: ob er ein Gott, oder ein Sterb- licher ſey? damit er wiſſe, mit wem er zu thun ha- be. Und mit himmliſcher Offenherzigkeit entdeckt ſich der Gott, wenn er ins Gedraͤnge geraͤth, daß man ihm aus dem Wege weichen ſollte. — — Kurzum! weil das ganze homeriſche Treffen voll verkleidet wandelnder Goͤtter iſt, weil der Dichter dieſe Hypotheſe wiſſentlich allen Helden und Strei- tern voraus ſetzt: freilich ſo gehoͤrt eine Minerva dazu, um dieſe eingekoͤrperten Weſen vor andern Menſchen kennbar zu machen. Aber nicht alſo, daß ſie das Geſicht Diomedes erhoͤhen dorfte, um Unſterbliche zu ſehen: denn die Unſterblichen glichen hier Menſchen; ſondern, um ihm dieſe und jene mordende Figur kennbar zu machen, daß ſie etwas mehr ſey, als wofuͤr er ſie anſehe, daß ſie kein Menſch, ſondern ein wandelnder Gott ſey a), u. ſ. f. kurz! hier erſcheinen die Goͤtter in einem hindernden Vehikulum gleichſam, und in dieſem Vehi- a) Iliad. Ε. 126. — 130. L 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/171
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/171>, abgerufen am 29.11.2024.