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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
durch die außerordentliche Gnade des Dichters, eine
Erleuchtung, eine Erhöhung des sterblichen Gesichts
nöthig haben, sie anzuschauen. Für solch ein Auge
sind die griechischen Götter geschaffen. Hat aber
der Dichter es nöthig, sie nicht sehen zu lassen:
so kleide er sie in eine Wolke; er werfe Nebel
vor unsere Augen. Eine solche Wolke, in der
sie erschienen, hat außerdem ja so manche hohe
Nebenbegriffe: den Begriff des Himmlischen und
Erhabenen, der einem himmlischen Wesen zukommt:
ist sie glänzend, so der prächtigste Thron eines über-
irdischen Regenten; dunkel, so das Gewand des
Zornigen und Fürchterlichen; schön düftend, so die
Verkündigerinn einer lieblichen angenehmen Gottheit
-- alle diese Nebenideen liegen schon in unserm
sinnlichen Verstande: sie haben den Dichtern aller
Zeiten die vortrefflichsten Bilder geschaffen: und
Homer sollte diesen edlen Gebrauch der Wolke unter-
lassen, nicht eingesehen haben? Er allein hätte da-
mit uns blos ein Hokuspokus einer poetischen Re-
densart machen wollen, um hier eine Entrückung,
dort eine innere Unsichtbarkeit, doch nicht so gerade
heraus zu sagen -- ich sage nochmals, so kenne ich
Homer nicht.

Freilich in den spätern Zeiten, da man die home-
rische Mythologie quintessenziirte, und aus ihr ein
paar Tropfen metaphysischen Geist abzog: da wußte
man nicht gnug von der innern Unsichtbarkeit der

Göt-
L 4

Erſtes Waͤldchen.
durch die außerordentliche Gnade des Dichters, eine
Erleuchtung, eine Erhoͤhung des ſterblichen Geſichts
noͤthig haben, ſie anzuſchauen. Fuͤr ſolch ein Auge
ſind die griechiſchen Goͤtter geſchaffen. Hat aber
der Dichter es noͤthig, ſie nicht ſehen zu laſſen:
ſo kleide er ſie in eine Wolke; er werfe Nebel
vor unſere Augen. Eine ſolche Wolke, in der
ſie erſchienen, hat außerdem ja ſo manche hohe
Nebenbegriffe: den Begriff des Himmliſchen und
Erhabenen, der einem himmliſchen Weſen zukommt:
iſt ſie glaͤnzend, ſo der praͤchtigſte Thron eines uͤber-
irdiſchen Regenten; dunkel, ſo das Gewand des
Zornigen und Fuͤrchterlichen; ſchoͤn duͤftend, ſo die
Verkuͤndigerinn einer lieblichen angenehmen Gottheit
— alle dieſe Nebenideen liegen ſchon in unſerm
ſinnlichen Verſtande: ſie haben den Dichtern aller
Zeiten die vortrefflichſten Bilder geſchaffen: und
Homer ſollte dieſen edlen Gebrauch der Wolke unter-
laſſen, nicht eingeſehen haben? Er allein haͤtte da-
mit uns blos ein Hokuspokus einer poetiſchen Re-
densart machen wollen, um hier eine Entruͤckung,
dort eine innere Unſichtbarkeit, doch nicht ſo gerade
heraus zu ſagen — ich ſage nochmals, ſo kenne ich
Homer nicht.

Freilich in den ſpaͤtern Zeiten, da man die home-
riſche Mythologie quinteſſenziirte, und aus ihr ein
paar Tropfen metaphyſiſchen Geiſt abzog: da wußte
man nicht gnug von der innern Unſichtbarkeit der

Goͤt-
L 4
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[167/0173] Erſtes Waͤldchen. durch die außerordentliche Gnade des Dichters, eine Erleuchtung, eine Erhoͤhung des ſterblichen Geſichts noͤthig haben, ſie anzuſchauen. Fuͤr ſolch ein Auge ſind die griechiſchen Goͤtter geſchaffen. Hat aber der Dichter es noͤthig, ſie nicht ſehen zu laſſen: ſo kleide er ſie in eine Wolke; er werfe Nebel vor unſere Augen. Eine ſolche Wolke, in der ſie erſchienen, hat außerdem ja ſo manche hohe Nebenbegriffe: den Begriff des Himmliſchen und Erhabenen, der einem himmliſchen Weſen zukommt: iſt ſie glaͤnzend, ſo der praͤchtigſte Thron eines uͤber- irdiſchen Regenten; dunkel, ſo das Gewand des Zornigen und Fuͤrchterlichen; ſchoͤn duͤftend, ſo die Verkuͤndigerinn einer lieblichen angenehmen Gottheit — alle dieſe Nebenideen liegen ſchon in unſerm ſinnlichen Verſtande: ſie haben den Dichtern aller Zeiten die vortrefflichſten Bilder geſchaffen: und Homer ſollte dieſen edlen Gebrauch der Wolke unter- laſſen, nicht eingeſehen haben? Er allein haͤtte da- mit uns blos ein Hokuspokus einer poetiſchen Re- densart machen wollen, um hier eine Entruͤckung, dort eine innere Unſichtbarkeit, doch nicht ſo gerade heraus zu ſagen — ich ſage nochmals, ſo kenne ich Homer nicht. Freilich in den ſpaͤtern Zeiten, da man die home- riſche Mythologie quinteſſenziirte, und aus ihr ein paar Tropfen metaphyſiſchen Geiſt abzog: da wußte man nicht gnug von der innern Unſichtbarkeit der Goͤt- L 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/173>, abgerufen am 29.11.2024.