"übersteigende Größe": er zeigt uns ihre Natur in Wirkung, in Bewegung.
Der große Jupiter! aber ist er bei Homer deß- wegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans, von einer seiner Augenbranen bis zur andern sieben Tagereisen hätte? Das würde uns Jupiter der Un- geheure, nicht aber der Große dünken: Homer weiß also bessern Weg. Er winkt mit seinem schwärzlichen Augenbranen der Thetis sein höchstes Zeichen zu: das ambrosische Haar auf dem un- sterblichen Haupte des Königes wallet, und der große Olympus bebt a) -- das ist der große Ju- piter! Nicht wie lange, sondern wie machtvoll seine Augenbrane und sein Haar sey: nicht wie ge- räumig, sondern wie gebietend das Haupt des un- sterblichen Königs: das ist das Augenmerk des Dichters. Das ist Jupiter, der Mächtige! Zevs, der Städteverwüster.
Einmal b) will dieser Jupiter seine überwiegende Macht vor allen Göttern recht ausdrücken: er mis- set sich also mit ihnen -- aber an körperlicher Größe? an Länge der Arme? an Stärke der Sehnen? un- würdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen bessern Vorschlag an seine Götter und Göttinnen. Alle sollten sich an die himmelherab hangende gol- dene Kette hängen, und mit allen Kräften ziehen: den Jupiter würden sie damit nicht vom Himmel
zur
a)Iliad. A' 528.
b)Iliad. Th. 17-27.
Kritiſche Waͤlder.
„uͤberſteigende Groͤße„: er zeigt uns ihre Natur in Wirkung, in Bewegung.
Der große Jupiter! aber iſt er bei Homer deß- wegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans, von einer ſeiner Augenbranen bis zur andern ſieben Tagereiſen haͤtte? Das wuͤrde uns Jupiter der Un- geheure, nicht aber der Große duͤnken: Homer weiß alſo beſſern Weg. Er winkt mit ſeinem ſchwaͤrzlichen Augenbranen der Thetis ſein hoͤchſtes Zeichen zu: das ambroſiſche Haar auf dem un- ſterblichen Haupte des Koͤniges wallet, und der große Olympus bebt a) — das iſt der große Ju- piter! Nicht wie lange, ſondern wie machtvoll ſeine Augenbrane und ſein Haar ſey: nicht wie ge- raͤumig, ſondern wie gebietend das Haupt des un- ſterblichen Koͤnigs: das iſt das Augenmerk des Dichters. Das iſt Jupiter, der Maͤchtige! Zevs, der Staͤdteverwuͤſter.
Einmal b) will dieſer Jupiter ſeine uͤberwiegende Macht vor allen Goͤttern recht ausdruͤcken: er miſ- ſet ſich alſo mit ihnen — aber an koͤrperlicher Groͤße? an Laͤnge der Arme? an Staͤrke der Sehnen? un- wuͤrdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen beſſern Vorſchlag an ſeine Goͤtter und Goͤttinnen. Alle ſollten ſich an die himmelherab hangende gol- dene Kette haͤngen, und mit allen Kraͤften ziehen: den Jupiter wuͤrden ſie damit nicht vom Himmel
zur
a)Iliad. Αʹ 528.
b)Iliad. Θ. 17-27.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0182"n="176"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Kritiſche Waͤlder.</hi></fw><lb/>„uͤberſteigende Groͤße„: er zeigt uns ihre Natur<lb/>
in Wirkung, in Bewegung.</p><lb/><p>Der große Jupiter! aber iſt er bei Homer deß-<lb/>
wegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans,<lb/>
von einer ſeiner Augenbranen bis zur andern ſieben<lb/>
Tagereiſen haͤtte? Das wuͤrde uns Jupiter der Un-<lb/>
geheure, nicht aber der Große duͤnken: Homer<lb/>
weiß alſo beſſern Weg. Er winkt mit ſeinem<lb/>ſchwaͤrzlichen Augenbranen der Thetis ſein hoͤchſtes<lb/>
Zeichen zu: das ambroſiſche Haar auf dem un-<lb/>ſterblichen Haupte des Koͤniges wallet, und der<lb/>
große Olympus bebt <noteplace="foot"n="a)"><hirendition="#aq">Iliad.</hi>Αʹ 528.</note>— das iſt der große Ju-<lb/>
piter! Nicht wie lange, ſondern wie machtvoll<lb/>ſeine Augenbrane und ſein Haar ſey: nicht wie ge-<lb/>
raͤumig, ſondern wie gebietend das Haupt des un-<lb/>ſterblichen Koͤnigs: das iſt das Augenmerk des<lb/>
Dichters. Das iſt Jupiter, der Maͤchtige! Zevs,<lb/>
der Staͤdteverwuͤſter.</p><lb/><p>Einmal <noteplace="foot"n="b)"><hirendition="#aq">Iliad.</hi>Θ. 17-27.</note> will dieſer Jupiter ſeine uͤberwiegende<lb/>
Macht vor allen Goͤttern recht ausdruͤcken: er miſ-<lb/>ſet ſich alſo mit ihnen — aber an koͤrperlicher Groͤße?<lb/>
an Laͤnge der Arme? an Staͤrke der Sehnen? un-<lb/>
wuͤrdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen<lb/>
beſſern Vorſchlag an ſeine Goͤtter und Goͤttinnen.<lb/>
Alle ſollten ſich an die himmelherab hangende gol-<lb/>
dene Kette haͤngen, und mit allen Kraͤften ziehen:<lb/>
den Jupiter wuͤrden ſie damit nicht vom Himmel<lb/><fwplace="bottom"type="catch">zur</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[176/0182]
Kritiſche Waͤlder.
„uͤberſteigende Groͤße„: er zeigt uns ihre Natur
in Wirkung, in Bewegung.
Der große Jupiter! aber iſt er bei Homer deß-
wegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans,
von einer ſeiner Augenbranen bis zur andern ſieben
Tagereiſen haͤtte? Das wuͤrde uns Jupiter der Un-
geheure, nicht aber der Große duͤnken: Homer
weiß alſo beſſern Weg. Er winkt mit ſeinem
ſchwaͤrzlichen Augenbranen der Thetis ſein hoͤchſtes
Zeichen zu: das ambroſiſche Haar auf dem un-
ſterblichen Haupte des Koͤniges wallet, und der
große Olympus bebt a) — das iſt der große Ju-
piter! Nicht wie lange, ſondern wie machtvoll
ſeine Augenbrane und ſein Haar ſey: nicht wie ge-
raͤumig, ſondern wie gebietend das Haupt des un-
ſterblichen Koͤnigs: das iſt das Augenmerk des
Dichters. Das iſt Jupiter, der Maͤchtige! Zevs,
der Staͤdteverwuͤſter.
Einmal b) will dieſer Jupiter ſeine uͤberwiegende
Macht vor allen Goͤttern recht ausdruͤcken: er miſ-
ſet ſich alſo mit ihnen — aber an koͤrperlicher Groͤße?
an Laͤnge der Arme? an Staͤrke der Sehnen? un-
wuͤrdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen
beſſern Vorſchlag an ſeine Goͤtter und Goͤttinnen.
Alle ſollten ſich an die himmelherab hangende gol-
dene Kette haͤngen, und mit allen Kraͤften ziehen:
den Jupiter wuͤrden ſie damit nicht vom Himmel
zur
a) Iliad. Αʹ 528.
b) Iliad. Θ. 17-27.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/182>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.