Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Wälder.

"Homer malet nichts, als fortschreitende Hand-
lungen: alle Körper, alle einzelne Körper malet er
nur "durch ihren Antheil an den Handlungen, ge-
"meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn
"ja besondere Umstände, unsern Blick auf einen
"einzelnen körperlichen Gegenstand länger zu heften:
"so weist er durch unzälige Kunstgriffe diesen ein-
"zelnen Gegenstand in einer Folge von Augenbli-
"cken, in deren jedem er anders erscheint a) --"
Schön! vortrefflich! die wahre Manier Homers!
-- Nur ob Homer diese Manier gewählt, weil er
mit successiven Tönen schildern wollte b), weil er
körperliche Gegenstände anders zu schildern verzwei-
felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in
der schönsten Ordnung von einem theile des Gegen-
standes führte, daß, wenn er uns auch die Verbin-
dung dieser Theile noch so klar zu machen wüßte c);
dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur
beständig gegenwärtig blieben, für das Ohr hinge-
gen die vernommenen Theile, folglich die Mühe des
Dichters, verlohren wäre -- ob deßwegen Homer
seine Gegenstände in eine Folge von Augenblicken
gesetzt, ist mir nie bei Homer beigefallen.

Wenn seine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju-
no Stück vor Stück zusammensetzt d), ent-
kommt da der Dichter dem Versuche, ein Coexsisten-

tes
a) p. 155.
b) p. 153.
c) p. 167.
d) Iliad. E. v. 722 -- 731.
Kritiſche Waͤlder.

„Homer malet nichts, als fortſchreitende Hand-
lungen: alle Koͤrper, alle einzelne Koͤrper malet er
nur „durch ihren Antheil an den Handlungen, ge-
„meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn
„ja beſondere Umſtaͤnde, unſern Blick auf einen
„einzelnen koͤrperlichen Gegenſtand laͤnger zu heften:
„ſo weiſt er durch unzaͤlige Kunſtgriffe dieſen ein-
„zelnen Gegenſtand in einer Folge von Augenbli-
„cken, in deren jedem er anders erſcheint a) —„
Schoͤn! vortrefflich! die wahre Manier Homers!
— Nur ob Homer dieſe Manier gewaͤhlt, weil er
mit ſucceſſiven Toͤnen ſchildern wollte b), weil er
koͤrperliche Gegenſtaͤnde anders zu ſchildern verzwei-
felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in
der ſchoͤnſten Ordnung von einem theile des Gegen-
ſtandes fuͤhrte, daß, wenn er uns auch die Verbin-
dung dieſer Theile noch ſo klar zu machen wuͤßte c);
dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur
beſtaͤndig gegenwaͤrtig blieben, fuͤr das Ohr hinge-
gen die vernommenen Theile, folglich die Muͤhe des
Dichters, verlohren waͤre — ob deßwegen Homer
ſeine Gegenſtaͤnde in eine Folge von Augenblicken
geſetzt, iſt mir nie bei Homer beigefallen.

Wenn ſeine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju-
no Stuͤck vor Stuͤck zuſammenſetzt d), ent-
kommt da der Dichter dem Verſuche, ein Coexſiſten-

tes
a) p. 155.
b) p. 153.
c) p. 167.
d) Iliad. Ε. v. 722 — 731.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0218" n="212"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi> </fw><lb/>
          <p>&#x201E;Homer malet nichts, als fort&#x017F;chreitende Hand-<lb/>
lungen: alle Ko&#x0364;rper, alle einzelne Ko&#x0364;rper malet er<lb/>
nur &#x201E;durch ihren Antheil an den Handlungen, ge-<lb/>
&#x201E;meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn<lb/>
&#x201E;ja be&#x017F;ondere Um&#x017F;ta&#x0364;nde, un&#x017F;ern Blick auf einen<lb/>
&#x201E;einzelnen ko&#x0364;rperlichen Gegen&#x017F;tand la&#x0364;nger zu heften:<lb/>
&#x201E;&#x017F;o wei&#x017F;t er durch unza&#x0364;lige Kun&#x017F;tgriffe die&#x017F;en ein-<lb/>
&#x201E;zelnen Gegen&#x017F;tand in einer Folge von Augenbli-<lb/>
&#x201E;cken, in deren jedem er anders er&#x017F;cheint <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 155.</note> &#x2014;&#x201E;<lb/>
Scho&#x0364;n! vortrefflich! die wahre Manier Homers!<lb/>
&#x2014; Nur ob Homer die&#x017F;e Manier gewa&#x0364;hlt, weil er<lb/><hi rendition="#fr">mit &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;iven To&#x0364;nen &#x017F;childern</hi> wollte <note place="foot" n="b)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 153.</note>, weil er<lb/>
ko&#x0364;rperliche Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde anders zu &#x017F;childern verzwei-<lb/>
felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in<lb/>
der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Ordnung von einem theile des Gegen-<lb/>
&#x017F;tandes fu&#x0364;hrte, daß, wenn er uns auch die Verbin-<lb/>
dung die&#x017F;er Theile noch &#x017F;o klar zu machen wu&#x0364;ßte <note place="foot" n="c)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 167.</note>;<lb/>
dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndig gegenwa&#x0364;rtig blieben, fu&#x0364;r das Ohr hinge-<lb/>
gen die vernommenen Theile, folglich die Mu&#x0364;he des<lb/>
Dichters, verlohren wa&#x0364;re &#x2014; ob deßwegen Homer<lb/>
&#x017F;eine Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde in eine Folge von Augenblicken<lb/>
ge&#x017F;etzt, i&#x017F;t mir nie bei Homer beigefallen.</p><lb/>
          <p>Wenn &#x017F;eine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju-<lb/>
no Stu&#x0364;ck vor Stu&#x0364;ck <hi rendition="#fr">zu&#x017F;ammen&#x017F;etzt</hi> <note place="foot" n="d)"><hi rendition="#aq">Iliad.</hi> &#x0395;. <hi rendition="#aq">v.</hi> 722 &#x2014; 731.</note>, ent-<lb/>
kommt da der Dichter dem Ver&#x017F;uche, ein Coex&#x017F;i&#x017F;ten-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tes</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0218] Kritiſche Waͤlder. „Homer malet nichts, als fortſchreitende Hand- lungen: alle Koͤrper, alle einzelne Koͤrper malet er nur „durch ihren Antheil an den Handlungen, ge- „meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn „ja beſondere Umſtaͤnde, unſern Blick auf einen „einzelnen koͤrperlichen Gegenſtand laͤnger zu heften: „ſo weiſt er durch unzaͤlige Kunſtgriffe dieſen ein- „zelnen Gegenſtand in einer Folge von Augenbli- „cken, in deren jedem er anders erſcheint a) —„ Schoͤn! vortrefflich! die wahre Manier Homers! — Nur ob Homer dieſe Manier gewaͤhlt, weil er mit ſucceſſiven Toͤnen ſchildern wollte b), weil er koͤrperliche Gegenſtaͤnde anders zu ſchildern verzwei- felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in der ſchoͤnſten Ordnung von einem theile des Gegen- ſtandes fuͤhrte, daß, wenn er uns auch die Verbin- dung dieſer Theile noch ſo klar zu machen wuͤßte c); dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur beſtaͤndig gegenwaͤrtig blieben, fuͤr das Ohr hinge- gen die vernommenen Theile, folglich die Muͤhe des Dichters, verlohren waͤre — ob deßwegen Homer ſeine Gegenſtaͤnde in eine Folge von Augenblicken geſetzt, iſt mir nie bei Homer beigefallen. Wenn ſeine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju- no Stuͤck vor Stuͤck zuſammenſetzt d), ent- kommt da der Dichter dem Verſuche, ein Coexſiſten- tes a) p. 155. b) p. 153. c) p. 167. d) Iliad. Ε. v. 722 — 731.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/218
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/218>, abgerufen am 23.11.2024.