"will" oder "du sollst!" haben -- gnug, wenn sein melos von Lust und Freude schallet: eine frohe Empfindung ist die Energie, die Muse jedes seiner Gesänge.
Pindar hat ein großes lyrisches Gemälde, ein labyrinthisches Odengebäude im Sinne, das eben durch anscheinende Ausschweifungen, durch Neben- figuren in mancherlei Licht ein energisches Ganzes werden: wo kein Theil für sich, wo jeder auf das Ganze geordnet, erscheinen soll: ein eidos: ein poe- tisches Gemälde, bei dem überall schon der Künst- ler, nicht die Kunst, sichtbar ist. "Jch singe!"
Wo mag nun Vergleichung Statt finden? Das Jdealganze Homers, Anakreons, Pindars, wie verschieden! wie ungleich das Werk, worauf sie arbeiten! Der eine will nichts, als dichten: er er- zälet: er bezaubert; das Ganze der Begebenheit ist sein Werk: er ist ein Dichter voriger Zeiten. Der andre will nicht sprechen; aus ihm singet die Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung ist sein Ganzes. Der dritte spricht selbst, damit man ihn höre: das Ganze seiner Ode ist ein Gebäu- de mit Symmetrie und hoher Kunst. -- Kann jeder seinen Zweck auf seine Art erreichen: mir sein Ganzes vollkommen darstellen; mich in dieser An- schauung täuschen -- was will ich mehr?
Es ist eine längst angenommene, und an sich unschuldige Hypothese, das Ganze jeder Gedichtart,
als
Kritiſche Waͤlder.
„will„ oder „du ſollſt!„ haben — gnug, wenn ſein μελος von Luſt und Freude ſchallet: eine frohe Empfindung iſt die Energie, die Muſe jedes ſeiner Geſaͤnge.
Pindar hat ein großes lyriſches Gemaͤlde, ein labyrinthiſches Odengebaͤude im Sinne, das eben durch anſcheinende Ausſchweifungen, durch Neben- figuren in mancherlei Licht ein energiſches Ganzes werden: wo kein Theil fuͤr ſich, wo jeder auf das Ganze geordnet, erſcheinen ſoll: ein ειδος: ein poe- tiſches Gemaͤlde, bei dem uͤberall ſchon der Kuͤnſt- ler, nicht die Kunſt, ſichtbar iſt. „Jch ſinge!„
Wo mag nun Vergleichung Statt finden? Das Jdealganze Homers, Anakreons, Pindars, wie verſchieden! wie ungleich das Werk, worauf ſie arbeiten! Der eine will nichts, als dichten: er er- zaͤlet: er bezaubert; das Ganze der Begebenheit iſt ſein Werk: er iſt ein Dichter voriger Zeiten. Der andre will nicht ſprechen; aus ihm ſinget die Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung iſt ſein Ganzes. Der dritte ſpricht ſelbſt, damit man ihn hoͤre: das Ganze ſeiner Ode iſt ein Gebaͤu- de mit Symmetrie und hoher Kunſt. — Kann jeder ſeinen Zweck auf ſeine Art erreichen: mir ſein Ganzes vollkommen darſtellen; mich in dieſer An- ſchauung taͤuſchen — was will ich mehr?
Es iſt eine laͤngſt angenommene, und an ſich unſchuldige Hypotheſe, das Ganze jeder Gedichtart,
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Kritiſche Waͤlder.
„will„ oder „du ſollſt!„ haben — gnug, wenn
ſein μελος von Luſt und Freude ſchallet: eine frohe
Empfindung iſt die Energie, die Muſe jedes ſeiner
Geſaͤnge.
Pindar hat ein großes lyriſches Gemaͤlde, ein
labyrinthiſches Odengebaͤude im Sinne, das eben
durch anſcheinende Ausſchweifungen, durch Neben-
figuren in mancherlei Licht ein energiſches Ganzes
werden: wo kein Theil fuͤr ſich, wo jeder auf das
Ganze geordnet, erſcheinen ſoll: ein ειδος: ein poe-
tiſches Gemaͤlde, bei dem uͤberall ſchon der Kuͤnſt-
ler, nicht die Kunſt, ſichtbar iſt. „Jch ſinge!„
Wo mag nun Vergleichung Statt finden?
Das Jdealganze Homers, Anakreons, Pindars,
wie verſchieden! wie ungleich das Werk, worauf ſie
arbeiten! Der eine will nichts, als dichten: er er-
zaͤlet: er bezaubert; das Ganze der Begebenheit
iſt ſein Werk: er iſt ein Dichter voriger Zeiten.
Der andre will nicht ſprechen; aus ihm ſinget die
Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung
iſt ſein Ganzes. Der dritte ſpricht ſelbſt, damit
man ihn hoͤre: das Ganze ſeiner Ode iſt ein Gebaͤu-
de mit Symmetrie und hoher Kunſt. — Kann
jeder ſeinen Zweck auf ſeine Art erreichen: mir ſein
Ganzes vollkommen darſtellen; mich in dieſer An-
ſchauung taͤuſchen — was will ich mehr?
Es iſt eine laͤngſt angenommene, und an ſich
unſchuldige Hypotheſe, das Ganze jeder Gedichtart,
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/230>, abgerufen am 17.02.2025.
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