[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. schwemmt zu seyn scheinet. Wo fliessen edlereThränen, als wenn der Sohn Fingals Ossian a), das Andenken seiner Söhne und seines Vaters, ih- rer Thaten und ihres Todes erneuret -- wo sind ed- lere Thränen, als diese auf den Wangen des Grei- ses, der "gleich einer alten Eiche dasteht: aber der Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe bei den Flügeln des Nords. Allein, allein soll ich an meinem Orte zu Staube werden." So klagt der tapfere Ossian, und so läßt derselbe, den Ar- nim, so den grauhaarigen Carryl klagen: so klagen die Helden, die Väter ihrer Stämme. Alle Em- pfindungen der Helden und der Menschen, z. E. Vaterrlands- und Geschlechter-Freundes- und Wei- ber- und Menschenliebe -- alle leben in den Ge- dichten dieses Volks, wie in Abdrücken ihrer Seele. Und so war es wohl nicht der Grieche allein, der thum a) Eben das. p. 17. 21. u. s. b) Laok. p. 6. C 5
Erſtes Waͤldchen. ſchwemmt zu ſeyn ſcheinet. Wo flieſſen edlereThraͤnen, als wenn der Sohn Fingals Oſſian a), das Andenken ſeiner Soͤhne und ſeines Vaters, ih- rer Thaten und ihres Todes erneuret — wo ſind ed- lere Thraͤnen, als dieſe auf den Wangen des Grei- ſes, der „gleich einer alten Eiche daſteht: aber der Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe bei den Fluͤgeln des Nords. Allein, allein ſoll ich an meinem Orte zu Staube werden.„ So klagt der tapfere Oſſian, und ſo laͤßt derſelbe, den Ar- nim, ſo den grauhaarigen Carryl klagen: ſo klagen die Helden, die Vaͤter ihrer Staͤmme. Alle Em- pfindungen der Helden und der Menſchen, z. E. Vaterrlands- und Geſchlechter-Freundes- und Wei- ber- und Menſchenliebe — alle leben in den Ge- dichten dieſes Volks, wie in Abdruͤcken ihrer Seele. Und ſo war es wohl nicht der Grieche allein, der thum a) Eben daſ. p. 17. 21. u. ſ. b) Laok. p. 6. C 5
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Erſtes Waͤldchen.
ſchwemmt zu ſeyn ſcheinet. Wo flieſſen edlere
Thraͤnen, als wenn der Sohn Fingals Oſſian a),
das Andenken ſeiner Soͤhne und ſeines Vaters, ih-
rer Thaten und ihres Todes erneuret — wo ſind ed-
lere Thraͤnen, als dieſe auf den Wangen des Grei-
ſes, der „gleich einer alten Eiche daſteht: aber der
Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe
bei den Fluͤgeln des Nords. Allein, allein ſoll ich
an meinem Orte zu Staube werden.„ So klagt
der tapfere Oſſian, und ſo laͤßt derſelbe, den Ar-
nim, ſo den grauhaarigen Carryl klagen: ſo klagen
die Helden, die Vaͤter ihrer Staͤmme. Alle Em-
pfindungen der Helden und der Menſchen, z. E.
Vaterrlands- und Geſchlechter-Freundes- und Wei-
ber- und Menſchenliebe — alle leben in den Ge-
dichten dieſes Volks, wie in Abdruͤcken ihrer
Seele.
Und ſo war es wohl nicht der Grieche allein, der
zugleich weinen und tapfer ſeyn konnte b). So war
nicht jeder, der Barbar heißt, der in einem rauhen
Klima wohnte, und die Bildung der Griechen nicht
kannte, von der Art, „daß er, um tapfer zu ſeyn,
„alle Menſchlichkeit erſticken muͤßte.„ So lag es
alſo wohl nicht an der National-Seele, am Tem-
perament, am Clima, am Geſittetſeyn der Griechen,
wenn ſie beides verbanden: Und ſo muͤſſen alſo
andre Gruͤnde ſeyn, die dieſe Miſchung von Helden-
thum
a) Eben daſ. p. 17. 21. u. ſ.
b) Laok. p. 6.
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