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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
verlieren müssen: Sprache, Poesie, Wissenschaft,
Kunst der Alten -- eine schwere Verbannung!
Wir wollen den irrigen, abergläubischen Ketzer dul-
den; denn mit ihm hätten wir, wie die Christen zu
Julians des Abtrünnigen Zeiten, zu viel verlohren?
Das wäre die Zweite Voraussetzung.

Hieraus würde auch die erstaunensvolle Frage
beantwortet: warum dies böse Ding, das doch blos
auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru-
het, habe beibehalten werden können? eine Blindheit,
die Jahrhunderte durch gedauret! Es wäre also
unmaßgeblich zu zeigen: "daß die Mythologie in
"ihrem Gebrauche wohl e[tw]as mehr, als Schall ohne
"Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnützer Flitter-
"staat, Gottlosigkeit und Aberglauben gewesen sey
"und seyn könne." Wie tief muß eine solche De-
duction anfangen! Und was hat unser christliches
Taufwasser mit dem ganz andern Werke zu thun,
in einer sehr bekannten, sehr Jdeen- und Bilder-
reichen Sprache poetische Zwecke zu erreichen?

Freilich könnte es eine feine Aufgabe bleiben:
"wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo-
"gischer Jdeen den Griechen und Römern nur be-
"scheiden nachtreten müssen?" Allein hieran ist bei
meinem Autor, und bei dem berühmten Vorredner
Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch
nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in
Betracht: die bei ihm alles sind. Gnug! daß es

ihm
G 4

Zweites Waͤldchen.
verlieren muͤſſen: Sprache, Poeſie, Wiſſenſchaft,
Kunſt der Alten — eine ſchwere Verbannung!
Wir wollen den irrigen, aberglaͤubiſchen Ketzer dul-
den; denn mit ihm haͤtten wir, wie die Chriſten zu
Julians des Abtruͤnnigen Zeiten, zu viel verlohren?
Das waͤre die Zweite Vorausſetzung.

Hieraus wuͤrde auch die erſtaunensvolle Frage
beantwortet: warum dies boͤſe Ding, das doch blos
auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru-
het, habe beibehalten werden koͤnnen? eine Blindheit,
die Jahrhunderte durch gedauret! Es waͤre alſo
unmaßgeblich zu zeigen: „daß die Mythologie in
„ihrem Gebrauche wohl e[tw]as mehr, als Schall ohne
„Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnuͤtzer Flitter-
„ſtaat, Gottloſigkeit und Aberglauben geweſen ſey
„und ſeyn koͤnne.„ Wie tief muß eine ſolche De-
duction anfangen! Und was hat unſer chriſtliches
Taufwaſſer mit dem ganz andern Werke zu thun,
in einer ſehr bekannten, ſehr Jdeen- und Bilder-
reichen Sprache poetiſche Zwecke zu erreichen?

Freilich koͤnnte es eine feine Aufgabe bleiben:
„wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo-
„giſcher Jdeen den Griechen und Roͤmern nur be-
„ſcheiden nachtreten muͤſſen?„ Allein hieran iſt bei
meinem Autor, und bei dem beruͤhmten Vorredner
Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch
nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in
Betracht: die bei ihm alles ſind. Gnug! daß es

ihm
G 4
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[103/0109] Zweites Waͤldchen. verlieren muͤſſen: Sprache, Poeſie, Wiſſenſchaft, Kunſt der Alten — eine ſchwere Verbannung! Wir wollen den irrigen, aberglaͤubiſchen Ketzer dul- den; denn mit ihm haͤtten wir, wie die Chriſten zu Julians des Abtruͤnnigen Zeiten, zu viel verlohren? Das waͤre die Zweite Vorausſetzung. Hieraus wuͤrde auch die erſtaunensvolle Frage beantwortet: warum dies boͤſe Ding, das doch blos auf dem Jrrthum und Aberglauben der Alten beru- het, habe beibehalten werden koͤnnen? eine Blindheit, die Jahrhunderte durch gedauret! Es waͤre alſo unmaßgeblich zu zeigen: „daß die Mythologie in „ihrem Gebrauche wohl etwas mehr, als Schall ohne „Sinn, Worte ohne Bedeutung, unnuͤtzer Flitter- „ſtaat, Gottloſigkeit und Aberglauben geweſen ſey „und ſeyn koͤnne.„ Wie tief muß eine ſolche De- duction anfangen! Und was hat unſer chriſtliches Taufwaſſer mit dem ganz andern Werke zu thun, in einer ſehr bekannten, ſehr Jdeen- und Bilder- reichen Sprache poetiſche Zwecke zu erreichen? Freilich koͤnnte es eine feine Aufgabe bleiben: „wie weit wir im Gebrauche mancherlei mytholo- „giſcher Jdeen den Griechen und Roͤmern nur be- „ſcheiden nachtreten muͤſſen?„ Allein hieran iſt bei meinem Autor, und bei dem beruͤhmten Vorredner Apollodors nicht zu gedenken; hier kommt auch nichts weniger, als Jrrthum und Aberglaube, in Betracht: die bei ihm alles ſind. Gnug! daß es ihm G 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/109>, abgerufen am 21.11.2024.