Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. Dazu aber, dazu dünkt mich das klotzische The- Um aller keuschen Musen und Gratien willen! steller
Kritiſche Waͤlder. Dazu aber, dazu duͤnkt mich das klotziſche The- Um aller keuſchen Muſen und Gratien willen! ſteller
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0130" n="124"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Kritiſche Waͤlder.</hi> </fw><lb/> <p>Dazu aber, dazu duͤnkt mich das klotziſche The-<lb/> ma wohl nicht das gewaͤhlteſte. Noch ſo genau<lb/> ausgefuͤhrt, kann es uns Virgil, als einen ſcham-<lb/> haften, keuſchen, zuͤchtigen Dichter, vorſtellen, es<lb/> kann ihn uns, als einen moraliſch reinen Geſellſchaf-<lb/> ter, empfehlen; ob aber deßwegen, als einen unter-<lb/> haltenden, liebenswuͤrdigen Geſellſchafter? ob, als<lb/> einen vortrefflichen Poeten, deſſen Genie begeiſtern,<lb/> deſſen poetiſche Kunſt lehren koͤnne? Das ſehe ich,<lb/> im Thema, nicht unmittelbar enthalten. Anmer-<lb/> kungen hieruͤber werden Ausſchweifungen ſeyn muͤſ-<lb/> ſen, oder — kurz! die lange Klagenvorrede vom<lb/> unwuͤrdigen, genieloſen, unpoetiſchen, unangeneh-<lb/> men Gebrauche der Alten, ſteht nicht an ihrem Or-<lb/> te. Auch das ſelbſt iſt ein unpoetiſcher Gebrauch<lb/> Virgils, wenn ich in ihm darauf ausgehe, Zucht<lb/> und Keuſchheit aufzuſuchen; nicht ſein Genie, ſeine<lb/> Kunſt, ſeine poetiſche Ader. Statt die Schoͤnhei-<lb/> ten, die entzuͤckenden Schoͤnheiten ſeiner Muſe, zu<lb/> betrachten, iſts wohl eine wuͤrdigere Ocularinſpec-<lb/> tion, ob Virgils Muſe auch — eine reine, keuſche<lb/> Jungfer ſey? Wuͤrdige Bemuͤhung, aber fuͤr<lb/> fromme Großtanten, und fuͤr kunſterfahrne Heb-<lb/> ammen wuͤrdig, nicht fuͤr den entzuͤckten Liebhaber<lb/> in der erſten Umarmung.</p><lb/> <p>Um aller keuſchen Muſen und Gratien willen!<lb/> will ich der Schamloſigkeit der Dichter nicht das<lb/> Wort reden, und die Schamhaftigkeit der Schrift-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſteller</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0130]
Kritiſche Waͤlder.
Dazu aber, dazu duͤnkt mich das klotziſche The-
ma wohl nicht das gewaͤhlteſte. Noch ſo genau
ausgefuͤhrt, kann es uns Virgil, als einen ſcham-
haften, keuſchen, zuͤchtigen Dichter, vorſtellen, es
kann ihn uns, als einen moraliſch reinen Geſellſchaf-
ter, empfehlen; ob aber deßwegen, als einen unter-
haltenden, liebenswuͤrdigen Geſellſchafter? ob, als
einen vortrefflichen Poeten, deſſen Genie begeiſtern,
deſſen poetiſche Kunſt lehren koͤnne? Das ſehe ich,
im Thema, nicht unmittelbar enthalten. Anmer-
kungen hieruͤber werden Ausſchweifungen ſeyn muͤſ-
ſen, oder — kurz! die lange Klagenvorrede vom
unwuͤrdigen, genieloſen, unpoetiſchen, unangeneh-
men Gebrauche der Alten, ſteht nicht an ihrem Or-
te. Auch das ſelbſt iſt ein unpoetiſcher Gebrauch
Virgils, wenn ich in ihm darauf ausgehe, Zucht
und Keuſchheit aufzuſuchen; nicht ſein Genie, ſeine
Kunſt, ſeine poetiſche Ader. Statt die Schoͤnhei-
ten, die entzuͤckenden Schoͤnheiten ſeiner Muſe, zu
betrachten, iſts wohl eine wuͤrdigere Ocularinſpec-
tion, ob Virgils Muſe auch — eine reine, keuſche
Jungfer ſey? Wuͤrdige Bemuͤhung, aber fuͤr
fromme Großtanten, und fuͤr kunſterfahrne Heb-
ammen wuͤrdig, nicht fuͤr den entzuͤckten Liebhaber
in der erſten Umarmung.
Um aller keuſchen Muſen und Gratien willen!
will ich der Schamloſigkeit der Dichter nicht das
Wort reden, und die Schamhaftigkeit der Schrift-
ſteller
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