Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. wenn man will, als bescheidnen Dichter, zeigen;aber auf sein Leben, auf seinen Charakter, und in- sonderheit auf die fromme Mine seines Gesichts kön- nen sie weniger beweisen, als Swifts Predigt über die Dreieinigkeit beweisen kann, daß er in die Biergesellschaften, als ein verkleideter Satyr, ge- gangen; daß er sein Märchen von der Tonne ge- schrieben. Wenn diese Abhandlung beweisen soll, daß er im Verstande Donatus ore probus gewe- sen, beweiset sie nichts. Wer wird sagen, daß deßwegen D. Luther züchtig ausgesehen; oder, daß er in seinen Tischreden jedes Wort auf die Goldwa- ge gelegt, weil sich nichts von solcher Art in seinem Gesangbuche befindet? Wenn Virgil scriptis pro- bus ist: muß er darum auch ore probus gewesen seyn? Jch weiß nicht, wie durch solchen Weg Et- was auf Virgils persönlichen Charakter folge. Für uns ists schwer, etwas auf ihn auszuma- drer a) p. 245. M 5
Zweites Waͤldchen. wenn man will, als beſcheidnen Dichter, zeigen;aber auf ſein Leben, auf ſeinen Charakter, und in- ſonderheit auf die fromme Mine ſeines Geſichts koͤn- nen ſie weniger beweiſen, als Swifts Predigt uͤber die Dreieinigkeit beweiſen kann, daß er in die Biergeſellſchaften, als ein verkleideter Satyr, ge- gangen; daß er ſein Maͤrchen von der Tonne ge- ſchrieben. Wenn dieſe Abhandlung beweiſen ſoll, daß er im Verſtande Donatus ore probus gewe- ſen, beweiſet ſie nichts. Wer wird ſagen, daß deßwegen D. Luther zuͤchtig ausgeſehen; oder, daß er in ſeinen Tiſchreden jedes Wort auf die Goldwa- ge gelegt, weil ſich nichts von ſolcher Art in ſeinem Geſangbuche befindet? Wenn Virgil ſcriptis pro- bus iſt: muß er darum auch ore probus geweſen ſeyn? Jch weiß nicht, wie durch ſolchen Weg Et- was auf Virgils perſoͤnlichen Charakter folge. Fuͤr uns iſts ſchwer, etwas auf ihn auszuma- drer a) p. 245. M 5
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Zweites Waͤldchen.
wenn man will, als beſcheidnen Dichter, zeigen;
aber auf ſein Leben, auf ſeinen Charakter, und in-
ſonderheit auf die fromme Mine ſeines Geſichts koͤn-
nen ſie weniger beweiſen, als Swifts Predigt uͤber
die Dreieinigkeit beweiſen kann, daß er in die
Biergeſellſchaften, als ein verkleideter Satyr, ge-
gangen; daß er ſein Maͤrchen von der Tonne ge-
ſchrieben. Wenn dieſe Abhandlung beweiſen ſoll,
daß er im Verſtande Donatus ore probus gewe-
ſen, beweiſet ſie nichts. Wer wird ſagen, daß
deßwegen D. Luther zuͤchtig ausgeſehen; oder, daß
er in ſeinen Tiſchreden jedes Wort auf die Goldwa-
ge gelegt, weil ſich nichts von ſolcher Art in ſeinem
Geſangbuche befindet? Wenn Virgil ſcriptis pro-
bus iſt: muß er darum auch ore probus geweſen
ſeyn? Jch weiß nicht, wie durch ſolchen Weg Et-
was auf Virgils perſoͤnlichen Charakter folge.
Fuͤr uns iſts ſchwer, etwas auf ihn auszuma-
chen; ob es aber ganz unmoͤglich ſey, ob Virgils
perſoͤnlicher Charakter ganz zweideutig bleiben muͤſ-
ſe, ſehe ich auch nicht ſo helle, daß ich Hrn. Klotzens
non licet aliquid certi hac de re ſtatuere a) unter-
ſchreiben doͤrfte. Mir fehlet die Kunſt Leſſings,
Virgil, ſeinem gewoͤhnlichen Charakter nach, ſo
zu retten, als er ſeinen Horaz gerettet hat; und
außer dem fehlet mir der Ort dazu. Jch will alſo
wenigſtens einige Materialien anfuͤhren, die ein an-
drer
a) p. 245.
M 5
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