Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. sich Leidenschaften äußern! Eine griechische Seelewar gewiß von andrer Gestalt und Bauart, als ei- ne Seele, die unsre Zeit bildet. Wie verschieden die Eindrücke der Erziehung, die Triebfedern des Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung des Lebens, der Anstrich des Umganges! Wie ver- schieden also das Urtheil über die Würde der Mensch- heit, über die Beschaffenheit des Patrioten, über die Natur der Götter, über die Erlaubnisse des Ver- gnügens, über Anstand und Zucht -- wie verschieden damals und jetzt! So weit Athen von Berlin, so weit müssen sich die Jugendeindrücke Homers hierüber von dem Urtheile eines seiner heu- tigen Kunstrichter entfernen. Wer die Geschichte des menschlichen Geistes in allen Zwischenzeiten zwischen Homer und uns kennet, wer den Umwand- lungen und Vermischungen der Begriffe von menschlicher Natur, Religion, Gelehrsamkeit, bür- gerlichem Jnteresse, Sittsamkeit und Wohlstande in allen diesen Zeiten nachgespüret, wer Augen hat, um den Ort zu sehen, auf welchen ihn die zusam- men gesetzten Kräfte so vieler Zwischenjahrhunderte geworfen haben, der wird in allem, was Charakter einer Menschenseele ist, ungemein rückhaltend seyn. Er wird Homer, den Schöpfer menschlicher Charak- tere, studiren; er wird in den Zeiten desselben nach der damaligen Gestalt dieser so wichtigen Be- griffe
Kritiſche Waͤlder. ſich Leidenſchaften aͤußern! Eine griechiſche Seelewar gewiß von andrer Geſtalt und Bauart, als ei- ne Seele, die unſre Zeit bildet. Wie verſchieden die Eindruͤcke der Erziehung, die Triebfedern des Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung des Lebens, der Anſtrich des Umganges! Wie ver- ſchieden alſo das Urtheil uͤber die Wuͤrde der Menſch- heit, uͤber die Beſchaffenheit des Patrioten, uͤber die Natur der Goͤtter, uͤber die Erlaubniſſe des Ver- gnuͤgens, uͤber Anſtand und Zucht — wie verſchieden damals und jetzt! So weit Athen von Berlin, ſo weit muͤſſen ſich die Jugendeindruͤcke Homers hieruͤber von dem Urtheile eines ſeiner heu- tigen Kunſtrichter entfernen. Wer die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes in allen Zwiſchenzeiten zwiſchen Homer und uns kennet, wer den Umwand- lungen und Vermiſchungen der Begriffe von menſchlicher Natur, Religion, Gelehrſamkeit, buͤr- gerlichem Jntereſſe, Sittſamkeit und Wohlſtande in allen dieſen Zeiten nachgeſpuͤret, wer Augen hat, um den Ort zu ſehen, auf welchen ihn die zuſam- men geſetzten Kraͤfte ſo vieler Zwiſchenjahrhunderte geworfen haben, der wird in allem, was Charakter einer Menſchenſeele iſt, ungemein ruͤckhaltend ſeyn. Er wird Homer, den Schoͤpfer menſchlicher Charak- tere, ſtudiren; er wird in den Zeiten deſſelben nach der damaligen Geſtalt dieſer ſo wichtigen Be- griffe
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Kritiſche Waͤlder.
ſich Leidenſchaften aͤußern! Eine griechiſche Seele
war gewiß von andrer Geſtalt und Bauart, als ei-
ne Seele, die unſre Zeit bildet. Wie verſchieden
die Eindruͤcke der Erziehung, die Triebfedern des
Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung
des Lebens, der Anſtrich des Umganges! Wie ver-
ſchieden alſo das Urtheil uͤber die Wuͤrde der Menſch-
heit, uͤber die Beſchaffenheit des Patrioten, uͤber
die Natur der Goͤtter, uͤber die Erlaubniſſe des Ver-
gnuͤgens, uͤber Anſtand und Zucht — wie
verſchieden damals und jetzt! So weit Athen von
Berlin, ſo weit muͤſſen ſich die Jugendeindruͤcke
Homers hieruͤber von dem Urtheile eines ſeiner heu-
tigen Kunſtrichter entfernen. Wer die Geſchichte
des menſchlichen Geiſtes in allen Zwiſchenzeiten
zwiſchen Homer und uns kennet, wer den Umwand-
lungen und Vermiſchungen der Begriffe von
menſchlicher Natur, Religion, Gelehrſamkeit, buͤr-
gerlichem Jntereſſe, Sittſamkeit und Wohlſtande
in allen dieſen Zeiten nachgeſpuͤret, wer Augen hat,
um den Ort zu ſehen, auf welchen ihn die zuſam-
men geſetzten Kraͤfte ſo vieler Zwiſchenjahrhunderte
geworfen haben, der wird in allem, was Charakter
einer Menſchenſeele iſt, ungemein ruͤckhaltend ſeyn.
Er wird Homer, den Schoͤpfer menſchlicher Charak-
tere, ſtudiren; er wird in den Zeiten deſſelben nach
der damaligen Geſtalt dieſer ſo wichtigen Be-
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