Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. Entweder so, daß ich lache, und es der Endzweckdes Dichters war, mein Lachen zu erregen, er thue es ernsthaft, oder scherzhaft; oder daß ich etwas Belachenswerthes erblicke, und verächtlich lache, mich ärgere. So sind mir die üppig lächelnden Zu- schauer bei dem vorgedachten Auftritte zwischen Ulysses und Jrus zuwider: sie lachen; aber kaum lache ich mit ihnen. So wird der häßliche Thersi- tes den Griechen belachenswerth; drum aber ist er nicht, um ihnen lächerlich zu seyn. So freuen sich die Götter im Olymp, und der sympathetische Leser soll sich mit ihnen freuen. -- Auf die Art wechseln die Empfindungen unsrer Seele die Länge eines Gedichts herab, und nur der kann das Ganze beurtheilen, der die ganze Reihe dieser Successionen sich auf einmal anschauend machen könnte. Da dies aber unmöglich ist: so schwimme ich sanft den Strom herab, und folge dem Dichter, der Ein Ge- fühl nach dem andern in mir aufrufft, Jedes mit dem andern verschmelzet, und die Misklänge in ein- ander auflöset: so wird der harmonische Einklang des Ganzen. Jst diese Harmonie bei einer Epopee aber nicht druß
Kritiſche Waͤlder. Entweder ſo, daß ich lache, und es der Endzweckdes Dichters war, mein Lachen zu erregen, er thue es ernſthaft, oder ſcherzhaft; oder daß ich etwas Belachenswerthes erblicke, und veraͤchtlich lache, mich aͤrgere. So ſind mir die uͤppig laͤchelnden Zu- ſchauer bei dem vorgedachten Auftritte zwiſchen Ulyſſes und Jrus zuwider: ſie lachen; aber kaum lache ich mit ihnen. So wird der haͤßliche Therſi- tes den Griechen belachenswerth; drum aber iſt er nicht, um ihnen laͤcherlich zu ſeyn. So freuen ſich die Goͤtter im Olymp, und der ſympathetiſche Leſer ſoll ſich mit ihnen freuen. — Auf die Art wechſeln die Empfindungen unſrer Seele die Laͤnge eines Gedichts herab, und nur der kann das Ganze beurtheilen, der die ganze Reihe dieſer Succeſſionen ſich auf einmal anſchauend machen koͤnnte. Da dies aber unmoͤglich iſt: ſo ſchwimme ich ſanft den Strom herab, und folge dem Dichter, der Ein Ge- fuͤhl nach dem andern in mir aufrufft, Jedes mit dem andern verſchmelzet, und die Misklaͤnge in ein- ander aufloͤſet: ſo wird der harmoniſche Einklang des Ganzen. Jſt dieſe Harmonie bei einer Epopee aber nicht druß
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Kritiſche Waͤlder.
Entweder ſo, daß ich lache, und es der Endzweck
des Dichters war, mein Lachen zu erregen, er thue
es ernſthaft, oder ſcherzhaft; oder daß ich etwas
Belachenswerthes erblicke, und veraͤchtlich lache,
mich aͤrgere. So ſind mir die uͤppig laͤchelnden Zu-
ſchauer bei dem vorgedachten Auftritte zwiſchen
Ulyſſes und Jrus zuwider: ſie lachen; aber kaum
lache ich mit ihnen. So wird der haͤßliche Therſi-
tes den Griechen belachenswerth; drum aber iſt
er nicht, um ihnen laͤcherlich zu ſeyn. So freuen
ſich die Goͤtter im Olymp, und der ſympathetiſche
Leſer ſoll ſich mit ihnen freuen. — Auf die Art
wechſeln die Empfindungen unſrer Seele die Laͤnge
eines Gedichts herab, und nur der kann das Ganze
beurtheilen, der die ganze Reihe dieſer Succeſſionen
ſich auf einmal anſchauend machen koͤnnte. Da
dies aber unmoͤglich iſt: ſo ſchwimme ich ſanft den
Strom herab, und folge dem Dichter, der Ein Ge-
fuͤhl nach dem andern in mir aufrufft, Jedes mit
dem andern verſchmelzet, und die Misklaͤnge in ein-
ander aufloͤſet: ſo wird der harmoniſche Einklang
des Ganzen.
Jſt dieſe Harmonie bei einer Epopee aber nicht
Bewunderung? Freilich! Niemand aber denke,
daß dieſe Hauptempfindung die Einzige, eine ganze
Epopee hin, ſeyn muͤſſe: denn wer kann einen lan-
gen ſtarren Blick in die Hoͤhe ertragen? Mitleiden
und Schrecken, und Abſcheu und Zorn, und Ver-
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