Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Orientalischen Sprachen: * "daß diese Tav-
"tologien, die dem Ohr der Morgenländer ge-
"fielen, unserm unleidbar sind" jenen waren
sie nicht Tavtologien,
denn Tavtologien
sind immer eckelhaft, und können wenigstens
nie vergnügen; sondern wenn ein Chor das
andere erklärte, bestimmte, oder das vorge-
tragne Gemälde mit Nebenzügen neu machte:
so befriedigte dies Aug und Ohr. Jch glau-
be, Michaelis wird finden, daß es in der
Grundsprache selten völlige Wiederholungen
sind; nur freilich in der Deutschen Uebersez-
zung, und am meisten in den Cramerischen
Psalmen, da sind es perpetuae tavtologiae,
Europae inuisae, aures laedentes, pru-
dentioribus stomachaturis, dormitaturis
reliquis.

Cramer scheint sich in seinen Predigten so-
wohl, als in den sogenannten Oden; in
Cantaten und in der fließenden Prose so sehr
an diese Wiederholungen und Umschreibungen
gewöhnt zu haben, daß er vergißt, ob das
Deutsche Ohr, das Kürze fodert, und der Deut-

sch
* Michael, praef. in Lowth. lectiones P. I.
D 5

Orientaliſchen Sprachen: * „daß dieſe Tav-
„tologien, die dem Ohr der Morgenlaͤnder ge-
„fielen, unſerm unleidbar ſind„ jenen waren
ſie nicht Tavtologien,
denn Tavtologien
ſind immer eckelhaft, und koͤnnen wenigſtens
nie vergnuͤgen; ſondern wenn ein Chor das
andere erklaͤrte, beſtimmte, oder das vorge-
tragne Gemaͤlde mit Nebenzuͤgen neu machte:
ſo befriedigte dies Aug und Ohr. Jch glau-
be, Michaelis wird finden, daß es in der
Grundſprache ſelten voͤllige Wiederholungen
ſind; nur freilich in der Deutſchen Ueberſez-
zung, und am meiſten in den Crameriſchen
Pſalmen, da ſind es perpetuae tavtologiae,
Europae inuiſae, aures laedentes, pru-
dentioribus ſtomachaturis, dormitaturis
reliquis.

Cramer ſcheint ſich in ſeinen Predigten ſo-
wohl, als in den ſogenannten Oden; in
Cantaten und in der fließenden Proſe ſo ſehr
an dieſe Wiederholungen und Umſchreibungen
gewoͤhnt zu haben, daß er vergißt, ob das
Deutſche Ohr, das Kuͤrze fodert, und der Deut-

ſch
* Michael, praef. in Lowth. lectiones P. I.
D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0061" n="57"/>
Orientali&#x017F;chen Sprachen: <note place="foot" n="*"><hi rendition="#aq">Michael, praef. in Lowth. lectiones</hi> P. I.</note> &#x201E;daß die&#x017F;e Tav-<lb/>
&#x201E;tologien, die dem Ohr der Morgenla&#x0364;nder ge-<lb/>
&#x201E;fielen, un&#x017F;erm unleidbar &#x017F;ind&#x201E; jenen <hi rendition="#fr">waren<lb/>
&#x017F;ie nicht Tavtologien,</hi> denn Tavtologien<lb/>
&#x017F;ind immer eckelhaft, und ko&#x0364;nnen wenig&#x017F;tens<lb/>
nie vergnu&#x0364;gen; &#x017F;ondern wenn ein Chor das<lb/>
andere erkla&#x0364;rte, be&#x017F;timmte, oder das vorge-<lb/>
tragne Gema&#x0364;lde mit Nebenzu&#x0364;gen neu machte:<lb/>
&#x017F;o befriedigte dies Aug und Ohr. Jch glau-<lb/>
be, Michaelis wird finden, daß es in der<lb/>
Grund&#x017F;prache &#x017F;elten vo&#x0364;llige Wiederholungen<lb/>
&#x017F;ind; nur freilich in der Deut&#x017F;chen Ueber&#x017F;ez-<lb/>
zung, und am mei&#x017F;ten in den Crameri&#x017F;chen<lb/>
P&#x017F;almen, da &#x017F;ind es <hi rendition="#aq">perpetuae tavtologiae,<lb/>
Europae inui&#x017F;ae, aures laedentes, pru-<lb/>
dentioribus &#x017F;tomachaturis, dormitaturis<lb/>
reliquis.</hi></p><lb/>
          <p>Cramer &#x017F;cheint &#x017F;ich in &#x017F;einen Predigten &#x017F;o-<lb/>
wohl, als in den &#x017F;ogenannten <hi rendition="#fr">Oden;</hi> in<lb/>
Cantaten und in der fließenden Pro&#x017F;e &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
an die&#x017F;e Wiederholungen und Um&#x017F;chreibungen<lb/>
gewo&#x0364;hnt zu haben, daß er vergißt, ob das<lb/>
Deut&#x017F;che Ohr, das Ku&#x0364;rze fodert, und der Deut-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ch</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0061] Orientaliſchen Sprachen: * „daß dieſe Tav- „tologien, die dem Ohr der Morgenlaͤnder ge- „fielen, unſerm unleidbar ſind„ jenen waren ſie nicht Tavtologien, denn Tavtologien ſind immer eckelhaft, und koͤnnen wenigſtens nie vergnuͤgen; ſondern wenn ein Chor das andere erklaͤrte, beſtimmte, oder das vorge- tragne Gemaͤlde mit Nebenzuͤgen neu machte: ſo befriedigte dies Aug und Ohr. Jch glau- be, Michaelis wird finden, daß es in der Grundſprache ſelten voͤllige Wiederholungen ſind; nur freilich in der Deutſchen Ueberſez- zung, und am meiſten in den Crameriſchen Pſalmen, da ſind es perpetuae tavtologiae, Europae inuiſae, aures laedentes, pru- dentioribus ſtomachaturis, dormitaturis reliquis. Cramer ſcheint ſich in ſeinen Predigten ſo- wohl, als in den ſogenannten Oden; in Cantaten und in der fließenden Proſe ſo ſehr an dieſe Wiederholungen und Umſchreibungen gewoͤhnt zu haben, daß er vergißt, ob das Deutſche Ohr, das Kuͤrze fodert, und der Deut- ſch * Michael, praef. in Lowth. lectiones P. I. D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/61
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/61>, abgerufen am 23.11.2024.