Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

durch Opfer und Trunkenheit -- und unter
den ältesten Göttern war immer auch ein Oeno-
trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man
wolle.

Jezt wurde also die trunkne Dichtkunst an
die Altäre zur Entsündigung geführt. Hier
befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein
und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte
sich also wieder der Religion: ihr Gesang war
voll von der thierischsinnlichen Sprache des
Weins, und der Wein erhob sich wieder zu
einer gewissen Mystischsinnlichen Spra-
che der Götter: ein heiliger Gesang in dop-
peltem Verstande. Die Priester, zugleich
Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio-
nalsagen eine Mythologie zusammen, die sich
zu ihren rauhen Gesängen bildete, mit denen
sie als mit einem Zaume, mit einem Stück
des Gottesdienstes, mit einem Zeitvertreibe
und Vergnügen das Volk lenkten.

Linus, den wir im fernsten Schatten als den
Vater der Dichtkunst erblicken, schrieb noch mit
Pelasgischen Buchstaben, den Feldzug des Bac-
chus. Anthes
der Böotier sang Bacchische
Hymnen: Orpheus, der Bezähmer der Grie-

chen

durch Opfer und Trunkenheit — und unter
den aͤlteſten Goͤttern war immer auch ein Oeno-
trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man
wolle.

Jezt wurde alſo die trunkne Dichtkunſt an
die Altaͤre zur Entſuͤndigung gefuͤhrt. Hier
befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein
und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte
ſich alſo wieder der Religion: ihr Geſang war
voll von der thieriſchſinnlichen Sprache des
Weins, und der Wein erhob ſich wieder zu
einer gewiſſen Myſtiſchſinnlichen Spra-
che der Goͤtter: ein heiliger Geſang in dop-
peltem Verſtande. Die Prieſter, zugleich
Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio-
nalſagen eine Mythologie zuſammen, die ſich
zu ihren rauhen Geſaͤngen bildete, mit denen
ſie als mit einem Zaume, mit einem Stuͤck
des Gottesdienſtes, mit einem Zeitvertreibe
und Vergnuͤgen das Volk lenkten.

Linus, den wir im fernſten Schatten als den
Vater der Dichtkunſt erblicken, ſchrieb noch mit
Pelasgiſchen Buchſtaben, den Feldzug des Bac-
chus. Anthes
der Boͤotier ſang Bacchiſche
Hymnen: Orpheus, der Bezaͤhmer der Grie-

chen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0136" n="304"/>
durch Opfer und Trunkenheit &#x2014; und unter<lb/>
den a&#x0364;lte&#x017F;ten Go&#x0364;ttern war immer auch ein Oeno-<lb/>
trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man<lb/>
wolle.</p><lb/>
          <p>Jezt wurde al&#x017F;o die trunkne Dichtkun&#x017F;t an<lb/>
die Alta&#x0364;re zur Ent&#x017F;u&#x0364;ndigung gefu&#x0364;hrt. Hier<lb/>
befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein<lb/>
und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte<lb/>
&#x017F;ich al&#x017F;o wieder der Religion: ihr Ge&#x017F;ang war<lb/>
voll von der <hi rendition="#fr">thieri&#x017F;ch&#x017F;innlichen</hi> Sprache des<lb/>
Weins, und der Wein erhob &#x017F;ich wieder zu<lb/>
einer gewi&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#fr">My&#x017F;ti&#x017F;ch&#x017F;innlichen</hi> Spra-<lb/>
che der Go&#x0364;tter: ein heiliger Ge&#x017F;ang in dop-<lb/>
peltem Ver&#x017F;tande. Die Prie&#x017F;ter, zugleich<lb/>
Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio-<lb/>
nal&#x017F;agen eine Mythologie zu&#x017F;ammen, die &#x017F;ich<lb/>
zu ihren rauhen Ge&#x017F;a&#x0364;ngen bildete, mit denen<lb/>
&#x017F;ie als mit einem Zaume, mit einem Stu&#x0364;ck<lb/>
des Gottesdien&#x017F;tes, mit einem Zeitvertreibe<lb/>
und Vergnu&#x0364;gen das Volk lenkten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Linus,</hi> den wir im fern&#x017F;ten Schatten als den<lb/>
Vater der Dichtkun&#x017F;t erblicken, &#x017F;chrieb noch mit<lb/>
Pelasgi&#x017F;chen Buch&#x017F;taben, den Feldzug des <hi rendition="#fr">Bac-<lb/>
chus. Anthes</hi> der Bo&#x0364;otier &#x017F;ang <hi rendition="#fr">Bacchi&#x017F;che</hi><lb/>
Hymnen: <hi rendition="#fr">Orpheus,</hi> der Beza&#x0364;hmer der Grie-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">chen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0136] durch Opfer und Trunkenheit — und unter den aͤlteſten Goͤttern war immer auch ein Oeno- trius, ein Weingott; man heiße ihn, wie man wolle. Jezt wurde alſo die trunkne Dichtkunſt an die Altaͤre zur Entſuͤndigung gefuͤhrt. Hier befahl die Religion ihnen Trunkenheit in Wein und Liebe, und ihre Trunkenheit bequemte ſich alſo wieder der Religion: ihr Geſang war voll von der thieriſchſinnlichen Sprache des Weins, und der Wein erhob ſich wieder zu einer gewiſſen Myſtiſchſinnlichen Spra- che der Goͤtter: ein heiliger Geſang in dop- peltem Verſtande. Die Prieſter, zugleich Dichter und Staatsleute, webten aus Ratio- nalſagen eine Mythologie zuſammen, die ſich zu ihren rauhen Geſaͤngen bildete, mit denen ſie als mit einem Zaume, mit einem Stuͤck des Gottesdienſtes, mit einem Zeitvertreibe und Vergnuͤgen das Volk lenkten. Linus, den wir im fernſten Schatten als den Vater der Dichtkunſt erblicken, ſchrieb noch mit Pelasgiſchen Buchſtaben, den Feldzug des Bac- chus. Anthes der Boͤotier ſang Bacchiſche Hymnen: Orpheus, der Bezaͤhmer der Grie- chen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/136
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/136>, abgerufen am 04.12.2024.