Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite
Vorläufiger Discours.


(Von dem Ursprunge, und den Gesichtspunkten,
in denen der Kunstrichter erscheinet: Prüfung
der Litteraturbriefe hiernach.)



Der erste Kunstrichter, war nichts mehr,
als ein Leser von Empfindung, und
Geschmack. Er weidete sich an den Schön-
heiten und den Erfindungen seiner Vorgän-
ger, den Bienen ähnlich, die den Saft und
das Blut der Blumen trinken, ohne doch
wie die Raupen, und Heuschrecken, kunst-
richterische Gerippe der Pflanzen zurückzulas-
sen. Er war jenem unschuldigen Paare gleich,
dem sich im Garten des Vergnügens jede
Frucht des Schönen und Guten darbot, ehe
es vom Philosophischen Erkänntnißbaum ge-
nascht hatte. Es hat in der Litteratur auch
ein Alter gegeben, da die Weisheit noch nicht
Wissenschaft, und Schriftstellerei; die Wahr-
heiten noch nicht Systeme; die Erfahrungen
noch nicht Versuche waren: statt zu lernen,
was andre gedacht, erhob man sich selbst zum

Den-
N 2
Vorlaͤufiger Diſcours.


(Von dem Urſprunge, und den Geſichtspunkten,
in denen der Kunſtrichter erſcheinet: Pruͤfung
der Litteraturbriefe hiernach.)



Der erſte Kunſtrichter, war nichts mehr,
als ein Leſer von Empfindung, und
Geſchmack. Er weidete ſich an den Schoͤn-
heiten und den Erfindungen ſeiner Vorgaͤn-
ger, den Bienen aͤhnlich, die den Saft und
das Blut der Blumen trinken, ohne doch
wie die Raupen, und Heuſchrecken, kunſt-
richteriſche Gerippe der Pflanzen zuruͤckzulaſ-
ſen. Er war jenem unſchuldigen Paare gleich,
dem ſich im Garten des Vergnuͤgens jede
Frucht des Schoͤnen und Guten darbot, ehe
es vom Philoſophiſchen Erkaͤnntnißbaum ge-
naſcht hatte. Es hat in der Litteratur auch
ein Alter gegeben, da die Weisheit noch nicht
Wiſſenſchaft, und Schriftſtellerei; die Wahr-
heiten noch nicht Syſteme; die Erfahrungen
noch nicht Verſuche waren: ſtatt zu lernen,
was andre gedacht, erhob man ſich ſelbſt zum

Den-
N 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0015"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Vorla&#x0364;ufiger Di&#x017F;cours.</hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <argument>
            <p>(Von dem Ur&#x017F;prunge, und den Ge&#x017F;ichtspunkten,<lb/><hi rendition="#et">in denen der Kun&#x017F;trichter er&#x017F;cheinet: Pru&#x0364;fung<lb/>
der Litteraturbriefe hiernach.)</hi></p>
          </argument><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>er er&#x017F;te Kun&#x017F;trichter, war nichts mehr,<lb/>
als ein Le&#x017F;er von Empfindung, und<lb/>
Ge&#x017F;chmack. Er weidete &#x017F;ich an den Scho&#x0364;n-<lb/>
heiten und den Erfindungen &#x017F;einer Vorga&#x0364;n-<lb/>
ger, den Bienen a&#x0364;hnlich, die den Saft und<lb/>
das Blut der Blumen trinken, ohne doch<lb/>
wie die Raupen, und Heu&#x017F;chrecken, kun&#x017F;t-<lb/>
richteri&#x017F;che Gerippe der Pflanzen zuru&#x0364;ckzula&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en. Er war jenem un&#x017F;chuldigen Paare gleich,<lb/>
dem &#x017F;ich im Garten des Vergnu&#x0364;gens jede<lb/>
Frucht des Scho&#x0364;nen und Guten darbot, ehe<lb/>
es vom Philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Erka&#x0364;nntnißbaum ge-<lb/>
na&#x017F;cht hatte. Es hat in der Litteratur auch<lb/>
ein Alter gegeben, da die Weisheit noch nicht<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, und Schrift&#x017F;tellerei; die Wahr-<lb/>
heiten noch nicht Sy&#x017F;teme; die Erfahrungen<lb/>
noch nicht Ver&#x017F;uche waren: &#x017F;tatt zu lernen,<lb/>
was andre gedacht, erhob man &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zum<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Den-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] Vorlaͤufiger Diſcours. (Von dem Urſprunge, und den Geſichtspunkten, in denen der Kunſtrichter erſcheinet: Pruͤfung der Litteraturbriefe hiernach.) Der erſte Kunſtrichter, war nichts mehr, als ein Leſer von Empfindung, und Geſchmack. Er weidete ſich an den Schoͤn- heiten und den Erfindungen ſeiner Vorgaͤn- ger, den Bienen aͤhnlich, die den Saft und das Blut der Blumen trinken, ohne doch wie die Raupen, und Heuſchrecken, kunſt- richteriſche Gerippe der Pflanzen zuruͤckzulaſ- ſen. Er war jenem unſchuldigen Paare gleich, dem ſich im Garten des Vergnuͤgens jede Frucht des Schoͤnen und Guten darbot, ehe es vom Philoſophiſchen Erkaͤnntnißbaum ge- naſcht hatte. Es hat in der Litteratur auch ein Alter gegeben, da die Weisheit noch nicht Wiſſenſchaft, und Schriftſtellerei; die Wahr- heiten noch nicht Syſteme; die Erfahrungen noch nicht Verſuche waren: ſtatt zu lernen, was andre gedacht, erhob man ſich ſelbſt zum Den- N 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/15
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/15>, abgerufen am 23.11.2024.