higkeit, Lust und Absicht zu richten; die Stum- men sprechen, die Blinden sehen, und die Tauben verstehen zu lehren; die Seuche eines falschen Geschmacks mit Gegengift zu heilen, oder ihr zuvorzukommen; kurz! Leute von rich- tigem Gefühl, von Einsicht, von Geschmack zu bilden -- das ist dein großer Zweck.
Dem Schriftsteller, was soll der Kunst- richter seyn? Sein Diener, sein Freund, sein unpartheiischer Richter! Suche ihn kennen zu lernen, und als deinen Herrn auszustudi- ren; nicht aber dein eigner Herr seyn zu wol- len. * "Unser Geist nimmt oft eine gewisse "Unbiegsamkeit an, die uns hindert, in die "Gedanken andrer uns gleichsam hineinden- "ken zu wollen, und folglich sehr oft die unsere "dadurch zu verbessern. Man bemerkt die- "ses nicht an sich selbst, wenn man einen an- "dern über eine Materie lieset, über die man "selbst noch nicht gedacht hat. Jst aber dies "leztere geschehen: so fängt die Steifigkeit "an, sich zu zeigen, die vermuthlich aus eben "dieser Ursache, auch außer andern, bei alten
"Leu-
* Litt. Br. Th. 17. p. 107.
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higkeit, Luſt und Abſicht zu richten; die Stum- men ſprechen, die Blinden ſehen, und die Tauben verſtehen zu lehren; die Seuche eines falſchen Geſchmacks mit Gegengift zu heilen, oder ihr zuvorzukommen; kurz! Leute von rich- tigem Gefuͤhl, von Einſicht, von Geſchmack zu bilden — das iſt dein großer Zweck.
Dem Schriftſteller, was ſoll der Kunſt- richter ſeyn? Sein Diener, ſein Freund, ſein unpartheiiſcher Richter! Suche ihn kennen zu lernen, und als deinen Herrn auszuſtudi- ren; nicht aber dein eigner Herr ſeyn zu wol- len. * „Unſer Geiſt nimmt oft eine gewiſſe „Unbiegſamkeit an, die uns hindert, in die „Gedanken andrer uns gleichſam hineinden- „ken zu wollen, und folglich ſehr oft die unſere „dadurch zu verbeſſern. Man bemerkt die- „ſes nicht an ſich ſelbſt, wenn man einen an- „dern uͤber eine Materie lieſet, uͤber die man „ſelbſt noch nicht gedacht hat. Jſt aber dies „leztere geſchehen: ſo faͤngt die Steifigkeit „an, ſich zu zeigen, die vermuthlich aus eben „dieſer Urſache, auch außer andern, bei alten
„Leu-
* Litt. Br. Th. 17. p. 107.
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higkeit, Luſt und Abſicht zu richten; die Stum-
men ſprechen, die Blinden ſehen, und die
Tauben verſtehen zu lehren; die Seuche eines
falſchen Geſchmacks mit Gegengift zu heilen,
oder ihr zuvorzukommen; kurz! Leute von rich-
tigem Gefuͤhl, von Einſicht, von Geſchmack
zu bilden — das iſt dein großer Zweck.
Dem Schriftſteller, was ſoll der Kunſt-
richter ſeyn? Sein Diener, ſein Freund, ſein
unpartheiiſcher Richter! Suche ihn kennen
zu lernen, und als deinen Herrn auszuſtudi-
ren; nicht aber dein eigner Herr ſeyn zu wol-
len. * „Unſer Geiſt nimmt oft eine gewiſſe
„Unbiegſamkeit an, die uns hindert, in die
„Gedanken andrer uns gleichſam hineinden-
„ken zu wollen, und folglich ſehr oft die unſere
„dadurch zu verbeſſern. Man bemerkt die-
„ſes nicht an ſich ſelbſt, wenn man einen an-
„dern uͤber eine Materie lieſet, uͤber die man
„ſelbſt noch nicht gedacht hat. Jſt aber dies
„leztere geſchehen: ſo faͤngt die Steifigkeit
„an, ſich zu zeigen, die vermuthlich aus eben
„dieſer Urſache, auch außer andern, bei alten
„Leu-
* Litt. Br. Th. 17. p. 107.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/19>, abgerufen am 16.07.2024.
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