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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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sind, worauf Horaz vielleicht hiemit gezielet,
auf wen er dort angespielet, was in seiner
Zeit den Lesern hiebei beifallen mußte, was
dort für verdeckte Züge hervorschimmern, was
hier für viele reiche Nebenideen sich zusam-
mengesellen -- kurz! die ganze Seite, die sich
auf einzelne Fälle gründet, auf seine Gele-
genheit und Umstände beziehet, sie einem Rö-
mer vorzüglich schäzzbar macht, diese ganze
Seite ist für uns oft dunkel: und die beste
Horazische Satyre läuft Gefahr, von ihrem
Urbilde vieles auf eine unerlaubte Art zu bor-
gen, unpassend zusammen zu sezzen, und also
als Kunststück betrachtet, weit hinter dem
Originale zu stehen. -- Jetzt vollends als
Dichterei, als ein Werk des Genies?
Hier entfernen sich die Parallelstriche immer
mehr. Mit einer todten Sprache ist uns
alles ausgestorben, was der Dichtkunst Leben
und Nerven gibt. -- Zuerst die Lage von
Vorfällen, über die jener schrieb, aus de-
nen sein Gedicht allen Saft zog, die es bis
auf die kleinsten Umstände nutzte, durch wel-
che es sich seinen Lesern so sehr empfahl, so
unvergeßlich machte, so nahe in ihre Seele

ging

ſind, worauf Horaz vielleicht hiemit gezielet,
auf wen er dort angeſpielet, was in ſeiner
Zeit den Leſern hiebei beifallen mußte, was
dort fuͤr verdeckte Zuͤge hervorſchimmern, was
hier fuͤr viele reiche Nebenideen ſich zuſam-
mengeſellen — kurz! die ganze Seite, die ſich
auf einzelne Faͤlle gruͤndet, auf ſeine Gele-
genheit und Umſtaͤnde beziehet, ſie einem Roͤ-
mer vorzuͤglich ſchaͤzzbar macht, dieſe ganze
Seite iſt fuͤr uns oft dunkel: und die beſte
Horaziſche Satyre laͤuft Gefahr, von ihrem
Urbilde vieles auf eine unerlaubte Art zu bor-
gen, unpaſſend zuſammen zu ſezzen, und alſo
als Kunſtſtuͤck betrachtet, weit hinter dem
Originale zu ſtehen. — Jetzt vollends als
Dichterei, als ein Werk des Genies?
Hier entfernen ſich die Parallelſtriche immer
mehr. Mit einer todten Sprache iſt uns
alles ausgeſtorben, was der Dichtkunſt Leben
und Nerven gibt. — Zuerſt die Lage von
Vorfaͤllen, uͤber die jener ſchrieb, aus de-
nen ſein Gedicht allen Saft zog, die es bis
auf die kleinſten Umſtaͤnde nutzte, durch wel-
che es ſich ſeinen Leſern ſo ſehr empfahl, ſo
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[92/0100] ſind, worauf Horaz vielleicht hiemit gezielet, auf wen er dort angeſpielet, was in ſeiner Zeit den Leſern hiebei beifallen mußte, was dort fuͤr verdeckte Zuͤge hervorſchimmern, was hier fuͤr viele reiche Nebenideen ſich zuſam- mengeſellen — kurz! die ganze Seite, die ſich auf einzelne Faͤlle gruͤndet, auf ſeine Gele- genheit und Umſtaͤnde beziehet, ſie einem Roͤ- mer vorzuͤglich ſchaͤzzbar macht, dieſe ganze Seite iſt fuͤr uns oft dunkel: und die beſte Horaziſche Satyre laͤuft Gefahr, von ihrem Urbilde vieles auf eine unerlaubte Art zu bor- gen, unpaſſend zuſammen zu ſezzen, und alſo als Kunſtſtuͤck betrachtet, weit hinter dem Originale zu ſtehen. — Jetzt vollends als Dichterei, als ein Werk des Genies? Hier entfernen ſich die Parallelſtriche immer mehr. Mit einer todten Sprache iſt uns alles ausgeſtorben, was der Dichtkunſt Leben und Nerven gibt. — Zuerſt die Lage von Vorfaͤllen, uͤber die jener ſchrieb, aus de- nen ſein Gedicht allen Saft zog, die es bis auf die kleinſten Umſtaͤnde nutzte, durch wel- che es ſich ſeinen Leſern ſo ſehr empfahl, ſo unvergeßlich machte, ſo nahe in ihre Seele ging

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/100>, abgerufen am 28.11.2024.