"ganz ihre Natur verloren: sind, da sie lange "Zeit mehr als andre ein tyrannisches Urbild "nachgeahmt, unter allen Nationen Euro- "pens, am ungleichsten sich selbst." Mit ihren Wäldern ist ihre Freyheit ausgehauen; den Winden und fremden Sitten ein Durch- zug verschaffet: für Sonnenstralen und frem- de Gewächse Raum gemacht: der Aberglaube erniedrigte die Denkart in den Staub, die subtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiste ver- unstaltende Krümmung: die Sprache erlag. Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert? Das zähle ein Weiser nach, der den Päbsti- schen Aberglauben mit der alten rauhen Tu- gend, die Politischen Unruhen mit der alten rauhen Stille, den Auskehricht der Mönchs- gelehrsamkeit mit der alten Bardischen Ar- muth, die sogenannte bäurische Römische Sprache mit der Altdeutschen zusammenwä- gen könnte: Wäre Deutschland blos von der Hand der Zeit, an dem Faden seiner eignen Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsere Denkart arm, eingeschränkt; aber unserm Boden treu, ein Urbild ihrer selbst, nicht so misgestaltet und zerschlagen.
Wer
„ganz ihre Natur verloren: ſind, da ſie lange „Zeit mehr als andre ein tyranniſches Urbild „nachgeahmt, unter allen Nationen Euro- „pens, am ungleichſten ſich ſelbſt.„ Mit ihren Waͤldern iſt ihre Freyheit ausgehauen; den Winden und fremden Sitten ein Durch- zug verſchaffet: fuͤr Sonnenſtralen und frem- de Gewaͤchſe Raum gemacht: der Aberglaube erniedrigte die Denkart in den Staub, die ſubtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiſte ver- unſtaltende Kruͤmmung: die Sprache erlag. Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert? Das zaͤhle ein Weiſer nach, der den Paͤbſti- ſchen Aberglauben mit der alten rauhen Tu- gend, die Politiſchen Unruhen mit der alten rauhen Stille, den Auskehricht der Moͤnchs- gelehrſamkeit mit der alten Bardiſchen Ar- muth, die ſogenannte baͤuriſche Roͤmiſche Sprache mit der Altdeutſchen zuſammenwaͤ- gen koͤnnte: Waͤre Deutſchland blos von der Hand der Zeit, an dem Faden ſeiner eignen Kultur fortgeleitet: unſtreitig waͤre unſere Denkart arm, eingeſchraͤnkt; aber unſerm Boden treu, ein Urbild ihrer ſelbſt, nicht ſo misgeſtaltet und zerſchlagen.
Wer
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„ganz ihre Natur verloren: ſind, da ſie lange
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„pens, am ungleichſten ſich ſelbſt.„ Mit
ihren Waͤldern iſt ihre Freyheit ausgehauen;
den Winden und fremden Sitten ein Durch-
zug verſchaffet: fuͤr Sonnenſtralen und frem-
de Gewaͤchſe Raum gemacht: der Aberglaube
erniedrigte die Denkart in den Staub, die
ſubtile Spitzfindigkeit gab ihrem Geiſte ver-
unſtaltende Kruͤmmung: die Sprache erlag.
Haben wir mehr bekommen, oder aufgeopfert?
Das zaͤhle ein Weiſer nach, der den Paͤbſti-
ſchen Aberglauben mit der alten rauhen Tu-
gend, die Politiſchen Unruhen mit der alten
rauhen Stille, den Auskehricht der Moͤnchs-
gelehrſamkeit mit der alten Bardiſchen Ar-
muth, die ſogenannte baͤuriſche Roͤmiſche
Sprache mit der Altdeutſchen zuſammenwaͤ-
gen koͤnnte: Waͤre Deutſchland blos von der
Hand der Zeit, an dem Faden ſeiner eignen
Kultur fortgeleitet: unſtreitig waͤre unſere
Denkart arm, eingeſchraͤnkt; aber unſerm
Boden treu, ein Urbild ihrer ſelbſt, nicht ſo
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/22>, abgerufen am 09.11.2024.
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