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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt
der menschlichen Seele
ins Licht des poeti-
schen Glanzes träte, dessen sie fähig ist: --
welch ein Gedicht! -- Wenn der Dichter die
ganze Ausdehnung der menschlichen Seele
ihre Höhen und Tiefen, mit seiner mächtigen
Hand umspannte: wenn er zu der Größe,
deren eine menschliche Seele fähig ist, sich er-
heben, die Stärke des Geistes umfassen, und
die Güte des Herzens, wie einen pierischen
Quell, kosten könnte, da seine Jdeen so hoch,
seine Wahrheiten so stark, und seine Em-
pfindungen
so bezaubernd wären, als der
größte Geist, die stärkste Seele, das beste
Herz: -- und er hiezu alle Macht der Dicht-
kunst aufböte -- wie lebhaft hat nicht schon
Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht
schildern; der insonderheit lehren, nicht rüh-
ren
wollte, der vorzüglich die Geschichte zu
seiner Gehülfinn machte, da dem Dichter al-
les zu Befehl steht.

Der Dichter würde da anfangen, wo der
Philosoph aufhöret: er würde von seiner gött-
lichen Höhe den ganzen dunkeln Grund der
Seele überschauen, aus diesem Chaos alle die

Jdeen

Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt
der menſchlichen Seele
ins Licht des poeti-
ſchen Glanzes traͤte, deſſen ſie faͤhig iſt: —
welch ein Gedicht! — Wenn der Dichter die
ganze Ausdehnung der menſchlichen Seele
ihre Hoͤhen und Tiefen, mit ſeiner maͤchtigen
Hand umſpannte: wenn er zu der Groͤße,
deren eine menſchliche Seele faͤhig iſt, ſich er-
heben, die Staͤrke des Geiſtes umfaſſen, und
die Guͤte des Herzens, wie einen pieriſchen
Quell, koſten koͤnnte, da ſeine Jdeen ſo hoch,
ſeine Wahrheiten ſo ſtark, und ſeine Em-
pfindungen
ſo bezaubernd waͤren, als der
groͤßte Geiſt, die ſtaͤrkſte Seele, das beſte
Herz: — und er hiezu alle Macht der Dicht-
kunſt aufboͤte — wie lebhaft hat nicht ſchon
Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht
ſchildern; der inſonderheit lehren, nicht ruͤh-
ren
wollte, der vorzuͤglich die Geſchichte zu
ſeiner Gehuͤlfinn machte, da dem Dichter al-
les zu Befehl ſteht.

Der Dichter wuͤrde da anfangen, wo der
Philoſoph aufhoͤret: er wuͤrde von ſeiner goͤtt-
lichen Hoͤhe den ganzen dunkeln Grund der
Seele uͤberſchauen, aus dieſem Chaos alle die

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[216/0224] Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt der menſchlichen Seele ins Licht des poeti- ſchen Glanzes traͤte, deſſen ſie faͤhig iſt: — welch ein Gedicht! — Wenn der Dichter die ganze Ausdehnung der menſchlichen Seele ihre Hoͤhen und Tiefen, mit ſeiner maͤchtigen Hand umſpannte: wenn er zu der Groͤße, deren eine menſchliche Seele faͤhig iſt, ſich er- heben, die Staͤrke des Geiſtes umfaſſen, und die Guͤte des Herzens, wie einen pieriſchen Quell, koſten koͤnnte, da ſeine Jdeen ſo hoch, ſeine Wahrheiten ſo ſtark, und ſeine Em- pfindungen ſo bezaubernd waͤren, als der groͤßte Geiſt, die ſtaͤrkſte Seele, das beſte Herz: — und er hiezu alle Macht der Dicht- kunſt aufboͤte — wie lebhaft hat nicht ſchon Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht ſchildern; der inſonderheit lehren, nicht ruͤh- ren wollte, der vorzuͤglich die Geſchichte zu ſeiner Gehuͤlfinn machte, da dem Dichter al- les zu Befehl ſteht. Der Dichter wuͤrde da anfangen, wo der Philoſoph aufhoͤret: er wuͤrde von ſeiner goͤtt- lichen Hoͤhe den ganzen dunkeln Grund der Seele uͤberſchauen, aus dieſem Chaos alle die Jdeen

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/224>, abgerufen am 20.05.2024.