Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt der menschlichen Seele ins Licht des poeti- schen Glanzes träte, dessen sie fähig ist: -- welch ein Gedicht! -- Wenn der Dichter die ganze Ausdehnung der menschlichen Seele ihre Höhen und Tiefen, mit seiner mächtigen Hand umspannte: wenn er zu der Größe, deren eine menschliche Seele fähig ist, sich er- heben, die Stärke des Geistes umfassen, und die Güte des Herzens, wie einen pierischen Quell, kosten könnte, da seine Jdeen so hoch, seine Wahrheiten so stark, und seine Em- pfindungen so bezaubernd wären, als der größte Geist, die stärkste Seele, das beste Herz: -- und er hiezu alle Macht der Dicht- kunst aufböte -- wie lebhaft hat nicht schon Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht schildern; der insonderheit lehren, nicht rüh- ren wollte, der vorzüglich die Geschichte zu seiner Gehülfinn machte, da dem Dichter al- les zu Befehl steht.
Der Dichter würde da anfangen, wo der Philosoph aufhöret: er würde von seiner gött- lichen Höhe den ganzen dunkeln Grund der Seele überschauen, aus diesem Chaos alle die
Jdeen
Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt der menſchlichen Seele ins Licht des poeti- ſchen Glanzes traͤte, deſſen ſie faͤhig iſt: — welch ein Gedicht! — Wenn der Dichter die ganze Ausdehnung der menſchlichen Seele ihre Hoͤhen und Tiefen, mit ſeiner maͤchtigen Hand umſpannte: wenn er zu der Groͤße, deren eine menſchliche Seele faͤhig iſt, ſich er- heben, die Staͤrke des Geiſtes umfaſſen, und die Guͤte des Herzens, wie einen pieriſchen Quell, koſten koͤnnte, da ſeine Jdeen ſo hoch, ſeine Wahrheiten ſo ſtark, und ſeine Em- pfindungen ſo bezaubernd waͤren, als der groͤßte Geiſt, die ſtaͤrkſte Seele, das beſte Herz: — und er hiezu alle Macht der Dicht- kunſt aufboͤte — wie lebhaft hat nicht ſchon Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht ſchildern; der inſonderheit lehren, nicht ruͤh- ren wollte, der vorzuͤglich die Geſchichte zu ſeiner Gehuͤlfinn machte, da dem Dichter al- les zu Befehl ſteht.
Der Dichter wuͤrde da anfangen, wo der Philoſoph aufhoͤret: er wuͤrde von ſeiner goͤtt- lichen Hoͤhe den ganzen dunkeln Grund der Seele uͤberſchauen, aus dieſem Chaos alle die
Jdeen
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Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt
der menſchlichen Seele ins Licht des poeti-
ſchen Glanzes traͤte, deſſen ſie faͤhig iſt: —
welch ein Gedicht! — Wenn der Dichter die
ganze Ausdehnung der menſchlichen Seele
ihre Hoͤhen und Tiefen, mit ſeiner maͤchtigen
Hand umſpannte: wenn er zu der Groͤße,
deren eine menſchliche Seele faͤhig iſt, ſich er-
heben, die Staͤrke des Geiſtes umfaſſen, und
die Guͤte des Herzens, wie einen pieriſchen
Quell, koſten koͤnnte, da ſeine Jdeen ſo hoch,
ſeine Wahrheiten ſo ſtark, und ſeine Em-
pfindungen ſo bezaubernd waͤren, als der
groͤßte Geiſt, die ſtaͤrkſte Seele, das beſte
Herz: — und er hiezu alle Macht der Dicht-
kunſt aufboͤte — wie lebhaft hat nicht ſchon
Abbt gedacht, der doch blos beobachten, nicht
ſchildern; der inſonderheit lehren, nicht ruͤh-
ren wollte, der vorzuͤglich die Geſchichte zu
ſeiner Gehuͤlfinn machte, da dem Dichter al-
les zu Befehl ſteht.
Der Dichter wuͤrde da anfangen, wo der
Philoſoph aufhoͤret: er wuͤrde von ſeiner goͤtt-
lichen Hoͤhe den ganzen dunkeln Grund der
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/224>, abgerufen am 16.02.2025.
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