Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Philosophen! Auf dem Papier wie rein! wie
sanft! wie schön und groß; heillos im Ausfüh-
ren!
bey jedem Schritte staunend und starrend
vor ungesehenen Hindernissen und Folgen.
Das Kind indeß war würklich großer Philo-
soph,
konnte rechnen, und mit Syllogismen,
Figuren und Jnstrumenten geläufig, oft so
glücklich spielen, daß neue Syllogismen, Re-
sultate,
und sogenannte Entdeckungen her-
auskamen -- die Frucht, die Ehre, der
Gipfel des menschlichen Geistes! -- durch
mechanisches Spiel!

Das war die schwerere Philosophie -- und
nun die leichte, die schöne! Gottlob! was ist
mechanischer, als diese. Jn Wissenschaften,
Künsten, Gewohnheiten, Lebensart, wo sie
hineingedrungen, wo sie Saft und Blüthe des
Jahrhunderts ist, was mechanischer als
sie? Eben das alte Herkommen, das sinn-
lose Vorurtheil
von Lernen, Langsamreifen,
Tiefeindringen
und Spätbeurtheilen hat sie
ja wie ein Joch vom Halse geworfen! hat in
unsre Gerichtsschranken, statt kleiner, stau-
biger, detaillirter Kenntnisse, wo jeder Vor-
fall als der behandelt und untersucht werden
soll, der er ist -- hat darinn welch schönes,

leich-



Philoſophen! Auf dem Papier wie rein! wie
ſanft! wie ſchoͤn und groß; heillos im Ausfuͤh-
ren!
bey jedem Schritte ſtaunend und ſtarrend
vor ungeſehenen Hinderniſſen und Folgen.
Das Kind indeß war wuͤrklich großer Philo-
ſoph,
konnte rechnen, und mit Syllogismen,
Figuren und Jnſtrumenten gelaͤufig, oft ſo
gluͤcklich ſpielen, daß neue Syllogismen, Re-
ſultate,
und ſogenannte Entdeckungen her-
auskamen — die Frucht, die Ehre, der
Gipfel des menſchlichen Geiſtes! — durch
mechaniſches Spiel!

Das war die ſchwerere Philoſophie — und
nun die leichte, die ſchoͤne! Gottlob! was iſt
mechaniſcher, als dieſe. Jn Wiſſenſchaften,
Kuͤnſten, Gewohnheiten, Lebensart, wo ſie
hineingedrungen, wo ſie Saft und Bluͤthe des
Jahrhunderts iſt, was mechaniſcher als
ſie? Eben das alte Herkommen, das ſinn-
loſe Vorurtheil
von Lernen, Langſamreifen,
Tiefeindringen
und Spaͤtbeurtheilen hat ſie
ja wie ein Joch vom Halſe geworfen! hat in
unſre Gerichtsſchranken, ſtatt kleiner, ſtau-
biger, detaillirter Kenntniſſe, wo jeder Vor-
fall als der behandelt und unterſucht werden
ſoll, der er iſt — hat darinn welch ſchoͤnes,

leich-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0106" n="102"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw><hi rendition="#b">Philo&#x017F;ophen!</hi> Auf dem Papier wie rein! wie<lb/>
&#x017F;anft! wie &#x017F;cho&#x0364;n und groß; heillos im <hi rendition="#b">Ausfu&#x0364;h-<lb/>
ren!</hi> bey jedem Schritte <hi rendition="#b">&#x017F;taunend</hi> und <hi rendition="#b">&#x017F;tarrend</hi><lb/>
vor unge&#x017F;ehenen Hinderni&#x017F;&#x017F;en und Folgen.<lb/>
Das Kind indeß war wu&#x0364;rklich großer <hi rendition="#b">Philo-<lb/>
&#x017F;oph,</hi> konnte <hi rendition="#b">rechnen,</hi> und mit Syllogismen,<lb/>
Figuren und <hi rendition="#b">Jn&#x017F;trumenten</hi> gela&#x0364;ufig, oft &#x017F;o<lb/>
glu&#x0364;cklich &#x017F;pielen, daß neue <hi rendition="#b">Syllogismen, Re-<lb/>
&#x017F;ultate,</hi> und &#x017F;ogenannte <hi rendition="#b">Entdeckungen</hi> her-<lb/>
auskamen &#x2014; die <hi rendition="#b">Frucht,</hi> die <hi rendition="#b">Ehre,</hi> der<lb/><hi rendition="#b">Gipfel</hi> des <hi rendition="#b">men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes!</hi> &#x2014; durch<lb/><hi rendition="#b">mechani&#x017F;ches Spiel!</hi></p><lb/>
          <p>Das war die &#x017F;chwerere Philo&#x017F;ophie &#x2014; und<lb/>
nun die <hi rendition="#b">leichte,</hi> die <hi rendition="#b">&#x017F;cho&#x0364;ne!</hi> Gottlob! was i&#x017F;t<lb/>
mechani&#x017F;cher, als die&#x017F;e. Jn Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften,<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;ten, Gewohnheiten, Lebensart, wo &#x017F;ie<lb/>
hineingedrungen, wo &#x017F;ie Saft und Blu&#x0364;the des<lb/>
Jahrhunderts <hi rendition="#b">i&#x017F;t,</hi> was <hi rendition="#b">mechani&#x017F;cher</hi> als<lb/>
&#x017F;ie? Eben das <hi rendition="#b">alte Herkommen,</hi> das <hi rendition="#b">&#x017F;inn-<lb/>
lo&#x017F;e Vorurtheil</hi> von <hi rendition="#b">Lernen, Lang&#x017F;amreifen,<lb/>
Tiefeindringen</hi> und <hi rendition="#b">Spa&#x0364;tbeurtheilen</hi> hat &#x017F;ie<lb/>
ja wie ein Joch vom Hal&#x017F;e geworfen! hat in<lb/>
un&#x017F;re <hi rendition="#b">Gerichts&#x017F;chranken,</hi> &#x017F;tatt kleiner, &#x017F;tau-<lb/>
biger, detaillirter Kenntni&#x017F;&#x017F;e, wo jeder Vor-<lb/>
fall <hi rendition="#b">als der</hi> behandelt und unter&#x017F;ucht werden<lb/>
&#x017F;oll, <hi rendition="#b">der er i&#x017F;t</hi> &#x2014; hat darinn <hi rendition="#b">welch &#x017F;cho&#x0364;nes,</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#b">leich-</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0106] Philoſophen! Auf dem Papier wie rein! wie ſanft! wie ſchoͤn und groß; heillos im Ausfuͤh- ren! bey jedem Schritte ſtaunend und ſtarrend vor ungeſehenen Hinderniſſen und Folgen. Das Kind indeß war wuͤrklich großer Philo- ſoph, konnte rechnen, und mit Syllogismen, Figuren und Jnſtrumenten gelaͤufig, oft ſo gluͤcklich ſpielen, daß neue Syllogismen, Re- ſultate, und ſogenannte Entdeckungen her- auskamen — die Frucht, die Ehre, der Gipfel des menſchlichen Geiſtes! — durch mechaniſches Spiel! Das war die ſchwerere Philoſophie — und nun die leichte, die ſchoͤne! Gottlob! was iſt mechaniſcher, als dieſe. Jn Wiſſenſchaften, Kuͤnſten, Gewohnheiten, Lebensart, wo ſie hineingedrungen, wo ſie Saft und Bluͤthe des Jahrhunderts iſt, was mechaniſcher als ſie? Eben das alte Herkommen, das ſinn- loſe Vorurtheil von Lernen, Langſamreifen, Tiefeindringen und Spaͤtbeurtheilen hat ſie ja wie ein Joch vom Halſe geworfen! hat in unſre Gerichtsſchranken, ſtatt kleiner, ſtau- biger, detaillirter Kenntniſſe, wo jeder Vor- fall als der behandelt und unterſucht werden ſoll, der er iſt — hat darinn welch ſchoͤnes, leich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/106
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/106>, abgerufen am 24.11.2024.